«Bis jetzt sage ich euch nichts Neues.» Wieder hielt er inne, wie wenn er nach geeigneten Worten suchen würde. Dabei hatte er diese Rede beim Warten auf sie vorbereiten können.
«Viele von ihnen bringen Unruhe, seltsame Bräuche und hohe Erwartungen mit. Einige aber, und es werden immer mehr, wollen uns und unsere Errungenschaften, die Früchte unserer Kultur und unseres Wohlstands kaputt machen. In anderen Ländern haben sie damit schon vor langem angefangen. Und sie werden es auch bei uns tun. Das ist wohl jedem von uns klar. Diebstähle, Plünderungen und Zerstörungen werden bald zu unserem Alltag gehören. Und jetzt? Was tun wir?»
Hans Wyss seufzte innerlich. Wann würde dieser Populist Stähli seinen Geltungswahn in den Griff bekommen und endlich diese törichte Rede beenden? Georg Stähli fuhr mit barscher Stimme fort:
«Nichts! Wir machen absolut nichts! Jedenfalls nichts, was nützt. Und warum nützt es nichts? Ich gebe euch ein Beispiel: Wenn ein Afrikaner bei uns in Bern unseren Jugendlichen Drogen verkauft, dann wird er irgendwann mal von unserer tüchtigen, aber in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkten Polizei erwischt und vor den Richter geführt. Vielleicht kommt der Neger dann irgendwann mal ins Gefängnis. Und was denkt er dann? Ich werde es Euch sagen. Dann wird er seinen Kumpanen sagen: ‚Ich habe es gut hier, die drei Mahlzeiten pro Tag sind super und abends kann ich fernschauen!‘» Georg Stähli liess diesen letzten Satz einige Sekunden wirken, dann holte er tief Luft und setzte zum letzten Abschnitt seiner Erläuterungen an und seine Stimme wurde laut und rauh:
«In seiner Heimat würden ihm beide Hände abgehackt und man würde ihn öffentlich auspeitschen. Dann, glaubt mir, wird er nie mehr dealen. Seht Ihr, auf was ich hinauswill? Wir dürfen Ausländer nicht mit unserer weit entwickelten Kuscheljustiz verurteilen, nicht mit einem Aufenthalt in unseren Hotelgefängnissen bestrafen. Nein! Wir müssen ihre Verbrechen mit ihren eigenen Mitteln verfolgen und bestrafen!»
Hans Wyss blieb sitzen und dankte ihm für seine inhaltlich kluge und rhetorisch perfekte Rede. Dann berichtete er ausführlich über seine Reise in den Nahen Osten und über die dort gewonnenen Erkenntnisse. Dann skizzierte er seine Idee. Nach seinen Ausführungen blieb es ein wenig still. Dann begann der Jurist für seine Kameraden auszuführen, welche Gesetze sie mit dem Projekt `Lumpenpack`, so wurde das Unterfangen auf Antrag des Anwalts bezeichnet, notgedrungen übertreten würden, als der Politiker ihn grob und mit seiner bellenden Stimme unterbrach:
«Was Sie da erzählen, ist jedem von uns klar. Was mir hingegen Sorgen bereitet, ist die Frage: Wer könnte uns diesbezüglich Probleme machen?» Hans Wyss erkannte, dass dies nur eine rhetorisch gemeinte Frage war, denn der Politiker hatte die Antwort bereits parat. Nachdem dieser sich mit dem linken Zeigefinger über seine linke Braue gestrichen hatte, fuhr er fort:
«Ich denke da an den militärischen Geheimdienst mit diesem Oberst König, dieser räudigen Klette! Er ist klug, hartnäckig und nachtragend. Er und sein Verbündeter, der holländische Kampftaucher, können für unser Vorhaben sehr gefährlich werden.» Alle erinnerten sich an die unangenehmen Verhöre in den Jahren nach dem Sustenprojekt. In diesem Moment fiel Hans Wyss ein, was ihn Tarek, der Geheimdienstchef von Us-al-Bin, gefragt hatte: Haben Sie bemerkt, dass Sie verfolgt werden?, und: Es sind nicht meine Leute, auch keine Katarer! Und plötzlich erkannte er: Er war von den eigenen Leuten beschattet worden! Dieser Geheimdienst, mit König und dessen Freund, war überaus lästig. Er war deshalb erleichtert, als der Politiker seinen Vorschlag eröffnete:
«Ich werde mich persönlich um diese zwei Herren kümmern!» Jeder wusste, dass Georg Stähli, ehemals Bundespräsident und Gründer der WG91, noch immer über diverse Verbindungen verfügte und auch wusste, wie diese zu nutzen waren. Hans Wyss berichtete von seinem Treffen in Katar und zeigte die Grundzüge seiner Projektidee auf. Befriedigt merkte er, wie eine frische Brise durch seine Kameraden hindurch zu fegen schien. Sie stellten diverse Fragen, brachten Einwände vor und erteilten ihm, ungefragt, diverse Ratschläge.
Nachdem Hans Wyss sich der ideellen Unterstützung sicher war, löste er die Versammlung auf und setzte sich mit dem Fabrikanten an den kleinen Schachtisch im Foyer. Der Waffenhändler hatte in den letzten Jahren verschiedene ehemalige Bunker, Wehrstollen und Festungsanlagen erworben. Bei dieser Unterredung ging es darum, einen geeigneten Ort für ihr Projekt ‚Lumpenpack’ zu finden.
Nachdem der Schachclub die Insel auf verschiedenen Wegen wieder verlassen hatte, begab Hans Wyss sich nach draussen, um frische Luft zu schöpfen. Zwischen der Villa und dem Bootshaus lag ein üppig bepflanzter, streng gegliederter und von Steinmauern eingefasster Garten. Er setzte sich in einen bequemen Hochlehner und trank einen Schlummertrunk. Er dachte an Mustafa und dessen Mutter.
2
Einmal hielt sich Mustafa, er war dreijährig, zusammen mit seiner Mutter in der weitläufigen Inselanlage auf. Mila trug einen Seidenschal, den sie im Nacken zu einem Kopftuch gebunden hatte. Sie spazierten entlang eines Weges, der mit Tagetes, auch Totenblumen genannt, gesäumt wurde. Es handelte sich um duftende, krautige Pflanzen, mit gelborangen Blüten. Diese dienten als Lebensmittelfarbstoff und als Futtermittelzusatz für Geflügel, damit deren Eidotter eine schöne Gelbfärbung erhielten. Einige Inhaltsstoffe halfen mit, einer Degeneration der Netzhaut des Auges vorzubeugen, die vornehmlich bei älteren Personen auftreten konnte. Die Totenblumen zogen Schnecken an. Mila ekelte sich vor Schnecken. Und hier auf dieser Insel hatte es viele, sehr viele Schnecken.
Sie hatte schon davon gehört, dass man diese schleimigen Fresser mit Hilfe von Bier in die Falle locken konnte. Aber der Gedanke daran, dass sie dann elendiglich ertrinken würden, gefiel ihr nicht. Schnecken mögen das Aroma von Kamille und Bohnenkraut nicht und reagieren empfindlich auf Trockenheit. Folglich hätten sie mit dem Bepflanzen dieser beiden Korb- und Lippenblütler sowie mit Hilfe von Steinmehl oder Branntkalk ferngehalten werden können. Von diesen Schutzmassnahmen wusste sie jedoch nichts und so zertrat sie die Schnecken mit ihren Häuschen während ihres Spaziergangs. Mustafa sah ihr fasziniert zu und begann, es ihr nachzumachen. Sobald er eine Schnecke mit ihrem Häuschen sah, rannte er zu ihr und setzte behutsam die Laufsohle seiner Sandale auf das Gehäuse und drückte dann mit dem Gewicht seines kindlichen Körpers auf das Schneckenhäuschen, bis es unter seiner Schuhspitze zersplitterte. Dazu rief er leise: «Tot, tot», und dann nochmals, lauter: «tot». Seine Mutter wartete einige Meter weiter vorne auf ihn. Sie hatte sich von ihm abgewandt, nicht alleine wegen seiner abstossenden Freude am Vernichten von Schnecken und ihrer Häuschen. Sie ekelte sich vor ihrem Sohn, denn er litt seit seinem ersten Lebensjahr an einer Hautkrankheit, bei welcher er rote, schuppende und nässende Ekzeme bekam. Und dies überall. Abscheu und Enttäuschung empfand sie auch, wenn sie an seinen Vater dachte. Diesen schien ihr Leiden und das seines Sohnes nicht zu interessieren. Nach der Geburt, welcher einige Monate mit grosser Traurigkeit, Ängsten und Reizbarkeit gefolgt waren, schien er das Interesse an ihr und seinem Sohn verloren zu haben.
Mustafa drehte sich zum Elternhaus um. Sein Vater stand am Fenster ihrer Wohnstube und trank aus einem farbigen orientalischen Teeglas. Er hatte ihm die ganze Zeit zugesehen. Der Goldrand des Glases funkelte in der Abendsonne. Er nickte seinem Sohn zu und lächelte.
***
Als Mustafa den Kindergarten und später die Schule besuchte, wurde er jeden Tag mit einem kleinen Motorboot auf das Festland gefahren und nachmittags wieder abgeholt. Die meisten seiner Mitschüler und Mitschülerinnen kannten die Insel nur von weitem. Es hiess, auf der Insel würden sich ein reicher Mann sowie Fremde aufhalten, die ihre Sprache nicht sprechen würden. Selten sah man jemanden von der Insel im Dorf. So kam es, dass kaum jemand aus dem Dorf wusste, wie es auf der kleinen Insel aussah.
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