«Später habe ich die empirisch gewonnenen Erkenntnisse für meine Doktorarbeit verwendet, in welcher ich aufzeige, dass Folter weder neue, nutzbare Informationen erbringt noch alte Informationen bestätigt.» Er stiess einen langen Seufzer aus und sagte abschliessend: «Trotzdem wenden die Amerikaner und viele andere …», er liess den Satz unvollständig. Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, runzelte der Schweizer seine Stirn und sah ihn fragend an:
«Aber wie, verehrter Sayyid, bringen Sie die Leute denn dazu, mit Ihnen zu kooperieren?» Der Gastgeber registrierte, dass er mit der arabischen Anrede angesprochen wurde und beeilte sich nachzuholen:
«Nennen Sie mich Tarek, einfach Tarek!». Dies war sein Vorname, und zwar der echte, aber es war ihm lieber so. Hans Wyss nickte. Tarek dachte nach. Er hatte seinen Gast richtig eingeschätzt: Du bist ein ehrgeiziger Geschäftsmann, Vertreter eines gierigen Kapitalismus, du würdest mit Iblis, dem obersten Satan zusammenspannen, wenn es dich deinen Zielen näherbringen würde. Er lächelte:
«Wir machen ihnen ein Angebot. Wir sagen zum Beispiel: >Du weisst von schrecklichen Verbrechen und wir wollen diese aufklären oder verhindern. Wenn du uns hilfst, werden wir dafür sorgen, dass deine kranke Mutter in ein sehr gutes Krankenhaus kommt und die besten Therapien bekommt.< Oder: >Dein Bruder möchte Immobilienhändler werden, nicht? Wir ermöglichen deinem Bruder das beste Studium an einer Universität im Westen, wenn…<���» Der Industrielle nickte.
«Das funktioniert auch in anderen Fällen. Zum Beispiel haben wir die niedrigste Rate bei Überfällen, Mord und Totschlag, Diebstahl und so weiter. Wir gelten als eines der sichersten Länder des Morgenlandes!» Hans Wyss hörte fasziniert, aber skeptisch zu. Er spürte, wie sich eine gewisse Enttäuschung in ihm breitmachte. Wusste er doch mit Sicherheit, dass sich terroristische Anschläge nicht mit dieser Art Belohnungssystem aus der Welt schaffen liessen. Tarek wollte nochmals auf den Punkt zurückkommen und seinem Gast jeden Zweifel wegräumen:
«Schauen Sie, wir haben Mühe, einige westliche Errungenschaften, wie die Meinungs- und Glaubensfreiheit oder die Gleichstellung von Mann und Frau vorbehaltlos anzunehmen. Aber ich habe noch nie, auch vor meiner militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Ausbildung verstanden, weshalb Menschen gefoltert werden. Wir wissen schon lange, und ich konnte dies, wie vorhin erwähnt, mit meinen eigenen Studien belegen, dass die Aussagen, die unter Folter gemacht werden, nicht verwertet werden können. Weil die Leute lügen, wenn sie eingeschüchtert werden. Auch als Abschreckung taugt die Folter nicht. Was also soll der Sinn sein, Menschen einfach so Schmerzen zuzufügen? Sie verlieren ihr Gesicht, ihre Würde, ihre Identität, und das ist auch in der muslimischen Welt verwerflich!» Hans Wyss verstand dessen Beharren auf diesem Thema nicht. Nun wollte er jedoch Antworten auf die Fragen, derentwegen er diese Reise unternommen hatte:
«Sie machen möglichen Tätern, Mittätern und Informanten also ein Angebot, bevor die ihre geplanten Taten umsetzen und welches sie nicht ausschlagen können. Eine Art Vorbeugung von leichten Verbrechen also. Wie kommt es aber, dass in Ihrem Land keine schweren Anschläge, keine Terrorakte, keine Selbstmordattentate mehr verübt werden? Da kann Ihr, zugegebenermassen beeindruckendes, Angebotssystem doch nicht genügen? Hat Ihr Sultan etwa gegen alle möglichen Attentäter vorbeugend, zur Abschreckung gewissermassen, eine Fatwa, ein Todesurteil ausgesprochen?». Tarek war auf diese Frage vorbereitet, er liess sich jedoch Zeit mit seiner Antwort und nahm einen Schluck Tee:
«Bevor ich Ihre Frage beantworte, lassen Sie mich auf etwas hinweisen: Das Abendland macht häufig den Fehler, Dinge ausschliesslich aus seiner Perspektive, auf dem Hintergrund seiner Gesetze zu betrachten …»
«Und missachtet hierbei den kulturellen, geschichtlichen und religiösen Hintergrund der Attentäter», unterbrach ihn Hans Wyss.
«Genau! Unser Sultan ist so etwas wie unser politischer und militärischer Führer, eine Fatwa jedoch wird meist von einem religiösen Führer ausgesprochen. Eine Fatwa ist eigentlich eine Rechtsauskunft. Aber ich weiss, Sie meinen hiermit ein Urteil, ein Todesurteil.» Der Schweizer nickte und fragte sich, wie weit er seinen Gastgeber in religiösen Fragen ausfragen durfte. Er entschied sich dafür, weiter nachzuhaken:
«Aber nicht alle religiösen Gemeinschaften befolgen dessen Befehle.» Der Gastgeber erkannte, dass sich sein Gast mit seinem Glauben auseinandergesetzt haben musste und nickte zufrieden:
«Exakt, obwohl die Schari’a, die Gesamtheit unserer islamischen Gesetze also, für alle Bürgerinnen und Bürger meines Landes gilt, wird eine Fatwa, ein Erlass, welcher befolgt werden muss, je nach Herkunft nicht von allen eingehalten.»
«Die Sunniten», ergänzte der Industrielle, «würden also eine Fatwa eines schiitischen Geistlichen nicht anerkennen.»
«Richtig. Doch das ist nicht der Grund, weshalb wir keine Fatwa in Erwägung gezogen haben, sondern, weil die jüngere Geschichte zeigt, dass Fatwas gegen Selbstmordattentäter weder effektiv noch nachhaltig sind.» Der Industrielle richtete seinen Blick zur Decke, um hierüber nachzudenken. Der Araber fuhr fort: «Der Fatwa, welche der Schiitenführer Khomeini im Jahre 1989 gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wegen Gotteslästerung ausgesprochen hatte, wurde ja nie entsprochen.»
«Aber bei unserem Thema, den Anschlägen …», beharrte der Unternehmer.
«Schauen Sie, es ist im Islam verboten, Unschuldige zu töten.» Der Schweizer seufzte innerlich und wandte ein, diesmal mit etwas schärferem Ton:
«Es ist im Islam auch verboten, Frauen ihre Rechte zu verwehren!», und achtete darauf, wie sein Gegenüber reagieren würde. Doch, falls ihn dieser Einwurf ärgerte, er verzog keine Miene, sein Blick blieb auf seinen Gast gerichtet und mit ruhiger Stimme fuhr er fort:
«Da hat die arabische Welt, wie gesagt, einen Nachholbedarf. Aber, was ich sagen wollte: Bevor sich Saudi-Arabien den USA anschloss, um gegen die Terrormiliz Islamischer Staat zu kämpfen, haben sich hochrangige Religionsgelehrte in einer Fatwa gegen den Terrorismus ausgesprochen. In Ägypten und in der ganzen Welt haben Imame, die Al-Azhar-Universität in Kairo, der Gelehrtenrat sowie der Grossmufti von Saudi-Arabien in zahlreichen Fatwas den Kampf gegen die Terrormiliz gutgeheissen. Ende 2015 verkündeten 70’000 islamische Geistliche in Indien eine Fatwa, in welcher stand, dass Organisationen wie die Taliban, al-Qaida und die IS nicht islamisch seien!»
«Und weshalb hat dies bis jetzt nichts gebracht?»
«Dies ist sehr schwierig zu beantworten», antwortete Tarek, nachdem er lange über diese Frage nachgedacht hatte. «Der Hauptgrund ist sicher darin zu suchen, dass die Terroristen eigentlich keine religiösen, sondern politische Gründe für ihr Handeln haben.» Weil er diese Frage nicht weiter mit seinem Gast erörtern wollte, vermied er es darauf hinzuweisen, dass der Westen mit seinen Kriegen im Nahen Osten, seiner Haltung den Palästinensern und allen Muslimen gegenüber sehr wohl eine Mitschuld tragen müsse. Hans Wyss war beeindruckt vom bisherigen Verlauf seines Gespräches, entdeckte er hierbei nämlich eine bemerkenswerte Offenheit seines Gegenübers ihm und seinen Fragen gegenüber. Aber er war nicht hierhergereist, um die gegenwärtige Weltlage mit seinem Gastgeber zu erörtern. Er wollte Antworten auf seine konkrete Frage:
«Wenn also die Fatwa nicht Euer Mittel ist, wie habt Ihr es denn geschafft, das einzige Land im Nahen Osten zu sein, welches seit drei Jahren keine Attentate mehr erleben musste?» Bevor Tarek ihm Antwort geben konnte, wurde die Mahlzeit serviert und sie assen, ohne dabei das Gespräch wiederaufzunehmen. Nach dem Essen erklärte Tarek seinem aufmerksamen Gast, weshalb Us-al-Bin das einzige Land weltweit war, welches einen wirksamen und nachhaltigen Weg gefunden hatte, den islamistischen Terror zu verhindern. Hans Wyss hörte ihm mit wachsendem Interesse zu. Was Tarek ihm schilderte, konnte er zwar nicht einfach eins zu eins so übernehmen. Aber blitzschnell hatte er begriffen: Es gab einen Weg, terroristische Islamisten davon abzuhalten, Mensch und Kultur auch in seinem Heimatland, der Schweiz, zu vernichten. Ein Verfahren, das zwar ausserhalb der Möglichkeiten eines Rechtsstaates lag. Eine Vorgehensweise jedoch, die er, mit Hilfe der WG 91 in kurzer Zeit würde umsetzen können.
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