Im Frühjahr des Jahres 1994 wurde Mila gegen ihren Willen schwanger. Sie gebar einen Jungen, der gemäss ihrem Wunsch Mustafa genannt wurde. Mustafa war der Titel eines orientalischen Volkslieds, welches sie in ihrer Jugend häufig gehört hatte. Der Name stammte aus dem Arabischen und bedeutete «Auserwählter».
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Einige Wochen, bevor Yasin und Mustafa mit dem Lieferwagen nach Luzern reisten, setzte sich Hans Wyss auf den Rücksitz seiner Limousine. Er bat Yasin, ihn zum Flughafen zu fahren. Der Industrielle schaute kurz auf die Tätowierung einer übergrossen Schnecke, welche der junge Mann auf seinem rechten Unterarm trug. Er mochte die feminine Stimme seines Fahrers nicht, aber er respektierte ihn. Alleine durch Fleiss und Ehrgeiz hatte dieser es geschafft, an einer weltweit führenden Hochschule zu studieren, obwohl er als Flüchtling und Waise miserable Voraussetzungen gehabt haben musste. Aus diesem Grund hatte er auch nichts dagegen, dass er sich häufig, als Gast Mustafas, auf seiner Insel aufhielt. Bisweilen bot er ihm die Gelegenheit, ihn gegen Bezahlung an wichtige Sitzungen zu fahren oder andere Dinge zu erledigen. Im Gegensatz zu Mustafa schien dieser gewillt zu sein, sein Studium selbst zu finanzieren. Yasin sah in den Innenrückspiegel. Sein Fahrgast trug einen schwarzen Anzug mit senkrechten weissen Streifen, ein kariertes, lachsfarbenes Hemd und eine weinrote Krawatte. Seine grossen, leicht blutunterlaufenen Augen hatten einen durchdringenden Blick, der auch dann nicht verschwand, wenn er lächelte. Mit seiner markanten Nase, der hohen Stirn und seinem weissen Dreitagebart wirkte er eher wie ein hellhäutiger Araber als ein gebürtiger Berner Oberländer. Der Industrielle verschwand aus seinem Gesichtsfeld, da dieser sich auf die Seite bückte und seiner Ledertasche einige Zeitungsartikel entnahm, die ihm seine rechte Hand ausgedruckt und mitgegeben hatte.
Hans Wyss interessierte sich seit seiner Jugend für die Kunstwerke von Malern, Architekten und Bildhauern. Er konnte sich daran nie sattsehen und so erwarb er sich zahlreiche Werke, nur um sie in Ruhe betrachten, riechen und berühren zu können. Dies ging jedoch nicht mit fest installierten, architektonischen oder gartenbaulichen Kostbarkeiten. Deshalb hatte er vor einigen Jahren den Bayrischen Staat darum gebeten, während einigen Werktagen das herrliche Schloss Herrenchiemsee im Innern putzen zu dürfen, oder zumindest Teile davon. Er hatte diese ausgesprochene Sehenswürdigkeit deshalb gewählt, weil ihn dort niemand erkennen würde. Niemal sonst würde er die Kostbarkeiten, die dort hingen oder ausgestellt waren, bei einem regulären Besuch genau anschauen können. Für einmal wollte er ganz nahe bei den Kunstwerken sein. Und so war es ihm gelungen, eine Woche lang mit einem kleinen Fiederwisch über die wunderbaren Stuckaturen im Speisezimmer zu wedeln und sich viel Zeit für die Betrachtung der Spiegelgalerie zu nehmen. Seine Ehefrau hatte sich damals einen Spass daraus gemacht, sich unter eine Besuchergruppe zu mischen. Als sie das Paradeschlafzimmer betraten, konnte sie, ohne dass er es merkte, ihn dabei ertappen, wie er regungslos auf dem königlichen Bett lag und sich tief versunken die Stickerei des Bettbaldachins anschaute. Hans Wyss hatte jedoch seine Gattin dank ihrer Haarfarbe, ihrer Grösse und mit Hilfe eines prunkvollen Wandspiegels bereits beim Eintreten unter den Besuchern entdeckt. Er schmunzelte und liess sie im Glauben, sie nicht bemerkt zu haben.
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Sie arbeitete seit mehr als 25 Jahren als Sekretärin für den Industriellen. Sie war sehr von ihm eingenommen, sie vertraute ihm und er ihr. Wenn sie an ihn dachte, sah sie seinen Blick, nicht seine Augen. Diese waren blaugrau, also ziemlich unauffällig. Es war sein Blick, der Ausdruck seiner Augen, wie er sie musterte, wie er jeden Menschen ansah. Aber auch, wie er Dinge, schöne Dinge, betrachtete. Schaute sie in seine Augen, erkannte sie Intelligenz, Scharfsinn und waches Interesse. Wenn ihr Chef einen Raum betrat, in welchem sich jemand befand, erwarb er sich binnen Sekundenbruchteilen einen Überblick über die anwesenden Personen. Gleichzeitig schien er die aktuelle Atmosphäre zu erfassen. Die äussere Stimmung, welche durch die Helligkeit der Leuchten, die Grösse des Raumes und die Möbel beeinflusst wurde. Wichtiger war ihm jedoch die innere Ausstrahlung, welche durch die anwesenden Lebewesen geprägt schien. Manchmal brauchte er dazu nur einen kurzen Rundblick, eine Art Panoramaaufnahme. Oftmals jedoch erhielt er diesen ersten Überblick, indem er nirgendwohin fokussierte und seine Augen für einen Moment unscharf liess. Dieser erste Eindruck, dieser erste Überblick war für ihn sehr wichtig, denn er half ihm, sich zu entscheiden: War genügend gute feinstoffliche Energie vorhanden, um Sympathien entstehen zu lassen? War es genügend ruhig, gar feierlich, um den Austausch mit potentiellen Kunden oder Partnern zu initiieren oder zu pflegen? War es jetzt günstig, Geschäfte abzuschliessen?
Die Sekretärin konnte nicht viel damit anfangen, als ihr Arbeitgeber ihr diese Prozesse schilderte. Aber sie erlebte tagtäglich, dass er äusserst erfolgreich war. Sein Grundblick war streng und hoch konzentriert. Sein Geist schien ihr dann wie nach innen gerichtet. Wenn er zufrieden war, strahlten seine Augen freundlich. Gerne wäre sie zu ihm auf seine Insel gezogen. Aber da lebten auch seine beiden Angestellten, dieser kalt wirkende skandinavische Hühne und jener finster dreinblickende Gärtner sowie dieser abstossende Junge. Sie schauderte bei diesem Gedanken.
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Heute sass der Industrielle in der Passagiermaschine einer arabischen Fluglinie auf einem Flug von Zürich nach Doha. Bevor er sich für die sechsstündige Reise einzurichten begann, bestellte er einen alkoholfreien Signature Cocktail. Er machte es sich in der ersten Klasse, auf einem von Giorgio Armani entworfenen Sessel bequem und las die Kolumne einer Sonntagszeitung zum internationalen Frauentag. Frank A. Meyer empörte sich darüber, dass auf der ganzen Welt Hunderte Millionen islamische Frauen herabgesetzt und entrechtet würden. Ist es wirklich wegen des Islam?, überlegte der Industrielle. Es gibt doch muslimische Länder und Regionen, in welchen Frauen gleichberechtigt sind? Im Kosova beispielsweise, in Marokko oder in der Türkei. Oder war er da zu gutgläubig oder zu wenig informiert? In seinen Fabriken arbeiteten mehrere Schiitinnen, Sunnitinnen und Wahhabitinnen, die kein Kopftuch trugen und die von ihren Männern mit Respekt behandelt wurden. Der aubergine-farbig gekleidete Maître de Cabine brachte ihm ein gelblich perlendes Getränk in einem hohem Glas, geschmückt mit einer Zitronenspirale und einem Minzenzweig. Er dankte, nahm einen Schluck und las weiter. Der Journalist fuhr fort, seine Gedanken mit eindrücklichen Beispielen aus der Türkei, Saudi-Arabien und Katar zu untermauern und prangerte den Islam als Tarnung für eine mittelalterliche Männerideologie an, welche die Frauen unterdrücke.
Hans Wyss legte den Artikel für einen Moment auf die Ablage vor sich und streckte seine Beine. Er missbilligte Geschäftsfreunde, die ihre Ferien in Ländern verbrachten, in welchen Frauen diskriminiert wurden. Er verachtete Bekannte von ihm, die faul und nutzlos an den Stränden herumlagen und Cocktails schlürften, während ihre Gastgeber ihre eigenen Frauen züchtigten. Trotzdem musste auch er Geschäfte mit diesen Männern abwickeln, er musste ja auch an seine Arbeitsplätze denken! Und was konnte er schon bewegen in diesen Ländern mit ihren Millionen von Männern! Dann erregte ein Abschnitt seine Aufmerksamkeit, in welchem der Autor die Befürchtung darlegte, nach welcher sich salafistische Vorstellungen von der Rolle der Frau auch in der Schweiz ausbreiten würden.
Den Rest des Aufsatzes, der sich mit den linken Schweizer Politikerinnen und ihrem Versagen befasste, las er nicht mehr. Es befriedigte ihn, dass sich Meyer, ebenso wie er, um die Schweizer Gesellschaft und ihre Kultur im Hinblick auf eine islamistische Eroberung besorgt zeigte und davor warnte. Er streckte sich auf dem komfortablen Bett aus und schloss die Augen. Er erinnerte sich an sein ideelles und finanzielles Engagement damals, nachdem er 1975 Mitglied der geheimen Wehrgemeinschaft 91 (WG 91) geworden war:
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