Der Schiessstand, in welchem sich Mustafa und Yasin aufhielten, war für das dynamische Schiessen eingerichtet. Das hiess, sie konnten sich in der Schiessbahn frei bewegen und auf Scheiben in unterschiedlicher Entfernung schiessen. Hierfür waren Geschossfänge notwendig, welche überall hingestellt werden konnten. Yasin hatte Spass daran, verschiedene Waffen in den Händen zu halten, den Rückstoss zu spüren und seine Resultate auf den Scheiben unmittelbar zu sehen. Er wusste, dass er durch die Beschaffenheit der Wände und der Blenden hervorragend gegen rück- und abprallende Geschosse oder Geschossteile geschützt war und dass Finn auf feuerfeste Materialien geachtet hatte. Dass die Räume absolut schalldicht gebaut waren, war für Yasin nachvollziehbar. Auch, dass die Anlage von keiner Baubehörde bewilligt und von keinem eidgenössischen Experten je besichtigt worden war. Das Einzige was ihn schon bei seinem ersten Besuch irritiert hatte, waren die Löcher. Die Wände, die mit zweifellos sehr teuren schwerentflammbaren Materialien eingekleidet waren sowie die Betonböden und -dielen, welche mit speziellen Gummiplatten fugenlos belegt waren, wiesen zahllose Vertiefungen auf. Diese waren unregelmässig und überall verteilt. Warum?
Nachdem die beiden eine Reihe von Pistolen und Revolvern abgefeuert hatten, begleitete Mustafa seinen Partner zum Ausgang und bat ihn, im Garten auf ihn zu warten. Dann kehrte er zurück, schloss die Schiessanlage von innen und öffnete die Waffenkammer. Hinter einer Schublade, unter einer Blende, ertastete er seine Lieblingswaffe. Es handelte sich um die belgische FN Project 90, eine Maschinenpistole, welche unter anderen von den Libyern, der türkischen Jandarma und dem Österreichischen Jagdkommando, einer Spezialeinheit des Bundesheeres, verwendet wurde. Ihr markantes Äußeres besass keine Ähnlichkeit mit einer herkömmlichen Waffe: So bestanden ihre beiden Griffstücke lediglich aus zwei Aussparungen, in die der Schütze hineingreifen musste, um abdrücken zu können. Mustafa wusste: In der Schweiz durfte damit nicht geschossen werden, ja sogar deren Erwerb und Besitz war hier verboten. Besonders an dieser Waffe gefielen ihm ihr Design und ihre hohe Durchschlagskraft, sogar durch Schutzwesten hindurch. Mustafa ging zu seiner mächtigen Stereoanlage und wählte Eminems Song Lose Yourself, stellte die Lautstärke des Verstärkers auf die zweithöchste Stufe und drückte die Repetiertaste. Dann fuhr er sanft mit seinem Mittelfinger über den kurzen Mündungsfeuerdämpfer, setzte ein volles Magazin ein und nahm die Waffe in beide Hände. Seine Augen glänzten, seine Atmung ging flach. Er spürte ein Kribbeln im Bauch und ein Hochgefühl, wie wenn er an einem Frühlingsmorgen durch den Garten auf der Insel spazierte und die frische, moos-, blüten- und laubgetränkte Luft einsog. Er ging zur Mitte seines Schiessraumes, spreizte die Beine und senkte seinen Schwerpunkt, indem er leicht in die Knie ging. Dann bewegte er den Umschalthebel für Feuerstösse und schoss ringsherum, sich um seine eigene Achse drehend sowie auf und ab, in den Boden und in die Decke.
«Tot, tot, tot», schrie er und nochmals:
«Tot, tot, tot», drei Mal hintereinander in kurzen Abständen. Er verschoss drei Magazine à 50 Schuss zum peitschenden Stakkato von Eminem. Dann begann er nochmals von vorne, und seine Stimme wurde immer lauter, die Worte immer schneller: Tot, tot, tot. Seine Atmung wurde schneller, seine Augen glänzten, seinen Mund verzerrte sich zu einem Lächeln. Dann überschlug sich seine Stimme und er hielt inne, ausser Atem, schweissgebadet und überschwemmt von Adrenalin und Dopamin. Dann fing er nochmals von vorne an. Schliesslich fühlte er sich ausgelaugt und sackte in die Hocke.
Nachdem sie sich abgekühlt hatte, legte er seine P90 wieder in die Schublade, verliess seine Anlage und traf sich mit Yasin, welcher auf einer Holzbank im Garten sass und sich geduldig in die Lektüre des Korans vertieft hatte.
***
Bereits während seiner Zeit im Kollegium, begann Mustafa in seinem Laboratorium, welches er als Bastelraum bezeichnete, zu experimentieren. Durch die Vermittlung von Finn, erhielt er Geld für Maschinen und Geräte, die er sich sonst niemals hätte leisten können. Hans Wyss wollte nicht wissen, wofür er zahlte, solange im Kollegium und auf der Insel Ruhe herrschte.
Mustafa und Yasin verloren mit der Zeit den Bezug zur Umwelt und zum realen Geschehen: Sie wähnten sich phasenweise, ohne es sich bewusst zu sein, in einer eigenen Welt mit einer eigenen Logik, einem eigenen Zeitgefühl, wie Liebende während der ersten Flitterwochen. Die immer seltener werdenden Besuche der Hochschule, das weitgehend autarke Leben auf der Insel, das Fehlen jeglicher sozialer Kontakte führten bei beiden zu einer Art Privatleben, welches bald jedes Verständnis, jede Prüfung und jede mögliche Einflussnahme von aussen verunmöglichte.
Die Ablehnung durch seine Mutter und das Desinteresse seines Vaters führten bei Mustafa bisweilen zu heftigen Selbstzweifeln und Selbsthass. Yasin, der diese destruktiven Gefühle und Gedanken aufgrund des Verlustes all seiner Verwandten, Freunde und Bezugspersonen durch den Krieg, selbst kannte, versuchte seinem Partner zu helfen, indem er ihn ablenkte, unterstützte, bei ihm war. Dadurch geriet Mustafa gelegentlich in einen mehrtägigen Schwingungszustand, in welchem er sich überwältigend und grossartig fühlte.
In einer dieser Phasen, in welchen beide aufblühten, begannen sie, mit Neutronen zu experimentieren.
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