Als er sich schliesslich von diesem grandiosen Gemälde lösen konnte, stiess er einen lauten Seufzer aus, nahm seine Brille ab und wandte sich seinem Nachbarn zu. Dieser betrachtete die Lautenspielerin noch eine Weile, um ihm so die Gelegenheit zu geben, ihn zu mustern. Hans Wyss war erstaunt, das Profil eines jungen Mannes mit feinen Gesichtszügen, gepflegt und perfekt rasiert, vor sich zu sehen. Der junge Mann trug einen bis oben zugeknöpften arabischen Anzug, sein Kopf war mit einem weissen Shimagh, einem quadratischen Tuch, welches von einem schwarzen Igal, einem Kopfring aus Wolle festgehalten wurde, bedeckt. Seine Füsse steckten in leichten, hellen Laufschuhen, was erklärte, weshalb der Industrielle ihn nicht hatte kommen hören.
«Guten Abend. Ihr Ruf als bedeutender Kunstliebhaber und fundierter Kenner der arabischen Kultur ist Ihnen vorausgeeilt, mein willkommener Gast», begann der junge Mann mit Bewunderung in seiner Stimme, und machte eine kleine Verbeugung, als er sich ihm zuwandte, «aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der eine ganze Stunde dasteht und ohne sich zu bewegen ein Kunstwerk anschaut!». Seine perfekte englische Aussprache deutete auf einen mehrjährigen Aufenthalt in einer guten englischen Privatschule oder Universität hin. Hans Wyss streckte ihm seine Hand entgegen und erwiderte:
«As-salaamu aleykum», Friede sei mit dir, worauf der Araber seine Hand locker schüttelte, dabei lächelte und antwortete:
«Wa aleykum as-alaam». Als sie sich in Richtung Ausgang bewegten, nahm der Industrielle die spektakuläre Innenarchitektur des Museums wahr. Er würde am nächsten Morgen nochmals zurückkehren um weitere Schätze zu erkunden. Auch um die Stahlkuppel, in der sich, so hatte er gelesen, tagsüber das hineinflutende Sonnenlicht tausendfach brach, bei Tageslicht zu bewundern.
«Seien Sie mein Gast», sagte der Geheimdienstchef von Us-al-Bin und führte ihn in Richtung Restaurant.
***
Als sie das Restaurant betraten, fiel dem Industriellen zuerst die inspirierende Beleuchtung auf. Durch die Anordnung der offenen und verdeckten Lichtquellen schien der hohe, helle Raum mehrdimensional: wo er auch hinsah, eröffneten sich gleichsam verschiedene Perspektiven. Die Farben waren aufeinander abgestimmt, was sich auf die harmonische Stimmung auswirkte. Sie wurden von einem Mann, der, mit Ausnahme der Fussbekleidung, ähnlich wie sein Begleiter gekleidet war, zu einem Tisch geführt. Der Geheimdienstchef überliess ihm den Sitz mit Blick in den Raum. Der Industrielle zählte rund ein Dutzend normal hohe Esstische mit westlichen Holzstühlen und etwa gleich viele niedrige runde Tische mit einigen Sitzhockern, welche mit braunem Leder bespannt waren. Dazwischen standen sogenannte Poufs, bequeme Sitzkissen, welche mit gelben Sternen geschmückt waren. An einigen weissen Wänden hingen Wandbehänge mit kleinen Spiegelchen und orientalischen Stickereien in den schönsten Farben. Sie waren an Messingstangen angebracht. Hans Wyss vermutete, es handle sich dabei um sehr wertvolle, alte und handgeknüpfte Wandteppiche. Nachdem beide sich einen Tee bestellt hatten, wandte sich der Araber an seinen Gast:
«Ich bin von Ihrer ruhigen und starken Ausstrahlung sehr beeindruckt. Ihre ernsten Gesichtszüge sagen mir, dass Sie sehr viel in Ihrem Leben nachgedacht haben und Ihre Augen sagen mir, dass Sie schon sehr vieles gesehen haben, auch weniger Schönes.» Der Industrielle schwieg und schaute seinen Gastgeber, der ein sanftes Lächeln im Gesicht hatte, aufmerksam an.
«Aber ich kann auch etwas Anderes in Ihrem Blick lesen», fuhr der Araber fort. «Sie sind mir gegenüber misstrauisch. Sie vermuten, einem Menschen gegenüber zu sitzen, der beruflich, und von meinem Sultan erlaubt, andere Menschen zum Reden bringen muss, indem er sie quält. Und das bereitet Ihnen ein Unbehagen.» Der Schweizer versuchte seine Überraschung über die geradlinige Eröffnung seines Gastgebers nicht zu zeigen und blieb ruhig. Er wartete darauf, dass sein Gegenüber weiterfuhr. Dieser nahm einen Schluck Wasser, dann wurde sein Gesichtsausdruck sehr ernst:
«Ich habe 16 Arten gelernt, wie ich jemanden ohne Geräusch töten und zwölf verschiedene Arten, wie ich Menschen unermessliche Schmerzen zufügen kann, sodass sie alles berichten, was ich hören möchte.» Der Industrielle bemerkte die Betonung auf: «alles, was ich hören möchte»…. Der Gastgeber hielt einen Moment inne und schaute sich im Restaurant um, ob er bei jemandem Aufmerksamkeit erregt hatte. Er registrierte verschiedene Zweier- und Dreiergruppen, alles Männer, an verschiedenen Tischen. Alle schienen in Gespräche vertieft zu sein. Nach einer Weile fuhr er mit derselben leisen Stimme und der gepflegten Aussprache fort:
«Alle Methoden wurden mir im christlichen Abendland beigebracht!» Hierbei musterte er das Gesicht seines Gegenübers auf Anzeichen von Ungläubigkeit oder Widerstand. Als er sah, dass sein Gast ihn immer noch ohne Regung und konzentriert ansah, fuhr er fort: «In Staaten, mit welchen Ihre Regierung befreundet ist, in Ländern, mit welchen Sie Ihre Geschäfte abwickeln!»
Hans Wyss spürte einen Klumpen in seiner Magengrube. War dies das Ende seiner Begegnung, wollte der Andere ihn konfrontieren oder gar provozieren und ihn dann nach Hause schicken? Doch er täuschte sich, denn als sein Gastgeber bemerkte, was bei seinem Gegenüber ablief, beeilte er sich fortzufahren:
«Aber ich habe hier nie, nicht ein einziges Mal jemandem weh getan, weder körperlich noch mental, auch wenn ich viele Dreckschweine kennen gelernt habe und als Leiter des Nachrichtendienstes die Erlaubnis dazu gehabt hätte.» In diesem Moment wurde ihnen der Tee serviert.
Der Gastgeber rührte in seiner Tasse und schien einen Moment in Gedanken versunken zu sein, dann sprach er, ohne aufzuschauen:
«Wissen Sie, was das Schlimme am Foltern ist?». Ohne eine Antwort zu erwarten fuhr er fort: «Nicht die körperlichen oder psychischen Schmerzen sind es, auch nicht die Aussicht auf bleibende Schäden.» Er trank einen Schluck, dann hob er den Kopf und schaute seinem Gast in die Augen:
«Der Gefolterte verliert seine Würde.» Er liess seinen Satz einen Moment lang wirken, dann fuhr er fort: «Das Opfer verliert die Kontrolle über seine Gefühle, seine Gedanken und seinen Körper. Das alles kann er, muss er hinnehmen, dies alles aber kann er später verstehen, entschuldigen, und vielleicht verarbeiten. Womit aber kein Mensch, der gefoltert wird, jemals fertig wird: er muss seine verinnerlichten Werte verabschieden, die Bilder, die er von sich, Allah und den Menschen gehabt hat, loslassen. Er verliert seine Selbstachtung, seinen Selbstrespekt, seinen Stolz, ja er verliert das Höchste: seine Erhabenheit als Mensch! Er fühlt sich weniger wert als ein Tier. Und Tiere, nebenbei, foltern nicht, führen keine Kriege, töten nie aus Lust, Habgier oder Rache.» Nach einem Moment fügte er hinzu: «Ich würde eher zehn Menschen mit meinen blossen Händen töten, als jemandem zusehen, wie er seine Würde verliert!» Er formulierte dies sehr leise und schien dies mehr zu sich selber zu sagen, denn er schaute an seinem Gast vorbei in eine Welt, in welche er nie mehr zurückkehren wollte.
Der Schweizer konnte nicht einordnen, was er bei diesen Worten seines Gastgebers empfand, aber er konnte das Gesagte nachvollziehen. Er nickte, sagte aber nichts. Er gab sich Mühe, keine Reaktion zu zeigen, denn er wollte bei seinem Gegenüber keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Er war hier, um Informationen zu erhalten und wegen nichts anderem. Doch sein Gastgeber verstand sein Schweigen als Unglaube und fügte hinzu:
«Meine ersten Ferien in Europa, es waren zwei Wochen Ballermann-Urlaub auf Mallorca», hier wandte sich sein Blick nach rechts oben und ein gequältes Lächeln zeigte sich, «verdiente ich mit einem Auftrag der Afrika-Sektion des Deuxième Bureau». Der Industrielle wusste: Das war die alte Bezeichnung für den französischen Geheimdienst. «Meine Aufgabe bestand darin, unter wissenschaftlich begleiteten Bedingungen herauszufinden, wie oft, in welchem Zeitabstand und wie lange insgesamt ein simuliertes Ertränken bei verschiedenen Männern und Frauen durchgeführt werden konnte, ohne dass sie das Leben verloren.» Der Geheimdienstmann senkte seinen ernsten Blick auf den Tisch.
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