Der Raum für die Haustechnik und den Server befand sich direkt gegenüber der Lifttüren. Das Licht im Gang war gedämpft. Es befanden sich keine Personen auf dem Flur. Die Nachtschwester hielt sich im Stationsraum auf, vermutete Yasin, da die Tür angelehnt war und er einen schmalen Lichtstreifen sah. Während sein Kollege mit der Installation der Ware im Raum für Haustechnik beschäftigt war, schritt er den Flur entlang und befestigte mehrere faustgrosse Geräte an der Decke. Bevor die ersten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ihrer Tagesschicht eintrafen, hatten sie ihre Arbeit getan und die Klinik auf dem gleichen Weg mit ihrem Sacklader und drei leeren Schachteln verlassen.
Nachdem sie ihr Leergut in den Laderaum geladen hatten, fragte der Jüngere: «Bist du sicher, dass du hierbleiben willst?» Yasin lachte leise und beruhigend:
«Ja natürlich, ich habe dir ja versprochen, dass ich dein Projekt wissenschaftlich begleiten werde!» Dann lächelte er, und auf seinen Wangen erschienen Grübchen, «zudem ist da noch eine Überraschung, die ich für dich bereithalten werde!» Ohne seinen Kollegen zu verabschieden, kehrte er in die Klinik zurück. Um 07.00 Uhr würde er sich im Restaurant Vitamins einen alkoholfreien grünen Smoothy aus Dörrbohnen und Kiwi gönnen.
Der Jüngere stieg in den Wagen und fuhr auf der A2 bis zur Autobahnraststätte Neuenkirch. Dort entfernte er alle aufgeklebten Beschriftungen vom Kastenwagen. Dann lenkte er den Lieferwagen über die Brücke auf die andere Seite der Autobahn und kehrte zurück nach Luzern. Von dort wählte er die Strecke in die Innerschweiz, überquerte den Brünigpass und fuhr weiter in Richtung Interlaken, Thun. Nach dem Giessbachtunnel nahm er die Ausfahrt nach Iseltwald, ein touristisches Dorf am linken Ufer des Brienzersees. Kurz vor dem Dorfeingang bog er wieder nach rechts und fuhr über das Geisswägli hinunter zum See. Dann bog er nach rechts und fuhr in nordöstlicher Richtung entlang des Seefeldwegs, bis er eine Anlegestelle und ein kleines Bootshaus erreichte. Er parkte den Transporter auf der rechten Seite des Gebäudes, wo er vom Seefeldweg her nicht mehr gesehen werden konnte. Den Lieferwagen würde Finn, der Mann für alles, später entsorgen. Mit Hilfe eines elektronischen Schlüssels gelangte er ins Innere des Bootshauses. Von da aus setzte Mustafa mit einem kleinen Motorboot auf die etwa 220 Meter vom Ufer entfernte Schneckeninsel über.
***
Die Schneckeninsel gehörte einem Industriellen aus dem Berner Oberland. Hans Wyss war ein sehr reicher Mann. Es war ihm durch kluge Anlagen, einem Markt, der ihm gewogen war und dank seinem ungewöhnlichen Einsatz innert zwei Jahrzehnten gelungen, aus der väterlichen Firma für Maschinenbauteile einen Konzern mit internationaler Bedeutung aufzubauen. Sein Vermögen betrug mehrere Milliarden. Im Jahre 1986 erwarb er die Insel im Brienzersee von einer evangelischen Schwesterngemeinschaft. Im zwölften Jahrhundert sollen Augustinermönche des Klosters Interlaken, welches unter dem Schutz von Kaiser Lothar III gestanden hatte, auf dieser Insel eine Schneckenzucht betrieben haben. Da Schnecken damals nicht zum Fleisch gezählt wurden, war deren Verzehr auch an kirchlichen Festtagen erlaubt und somit sehr begehrt. Und so trägt die Insel heute noch den Namen Schnäggeninseli (Schneckeninsel).
Am Ufer der Insel lag ein Bootshaus, welches grösser war als jenes auf dem Festland und über eine kleine Wohnung über dem Bootsraum verfügte. Von der Anlegestelle aus führte ein leicht ansteigender Weg durch einen Garten zu einer zweistöckigen Villa, welche im französischen Stil gebaut und mit einem Walmdach überdeckt worden war.
Vier Jahre nach dem Erwerb der Insel verstarb seine Gattin an Krebs. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Hans Wyss, der bald 43 Jahre alt wurde, entschied sich, sich zurückzuziehen und mit seinen Kunstschätzen auf die Insel zu übersiedeln. Dank seiner geschäftlichen Beziehungen fand er einen 25-jährigen skandinavischen Sicherheitsexperten. Diesen beauftragte er, ihm Massnahmen vorzuschlagen, welche ihn und seine wertvolle Sammlung von Gemälden und Skulpturen vor Diebstahl und Naturgefahren schützen sollten. Als Finn, er wollte nur mit seinem Vornamen angesprochen werden, seinem Arbeitgeber vorschlug, eine unterirdische Anlage mit verschiedenen Kammern zu bauen, übertrug dieser ihm die Bauleitung, auch für die Renovation der Herrschaftsvilla. Von da an lebte Finn in einer kleinen Einliegerwohnung in der Villa. Der Höhepunkt seiner vielseitigen Arbeit war die Realisierung eines Ausstellungsraumes unterhalb der Wohnung des Bootshauses. Dieser stand bis zur Hälfte im See und sollte einige Skulpturen des Inselbesitzers präsentieren. Finn gab ihm den Namen Seeraum. Sass man vor der festverglasten Fensterwand, sah man durch die untere Hälfte der Scheibe unter, durch die obere Hälfte über den Seespiegel. Mit einer speziell angefertigten Sichtschutzverglasung konnte der Grad der Lichtdurchlässigkeit und des Sichtschutzes verändert werden.
Um vom Eiland auf das Festland zu gelangen, benutzten deren Bewohner verschiedene Boote, die auf die Anlegeplätze neben beiden Bootshäusern hinaufgezogen und festgemacht wurden. Eine der Sicherheitsmassnahmen, welche Finn umgesetzt hatte, war, dass es auf der ganzen Insel keine weiteren Landestellen gab. Dadurch war es für neugierige Besucher kaum möglich, unbemerkt auf die Insel zu gelangen. Jeder Verkehr fand auf dem Wasser, von Anlegestelle zu Anlegestelle statt. Am nördlichen Ende der Insel liess Finn eine Lichtung in den Wald schlagen, um hier einen kleinen Landeplatz für Helikopter zu bauen. Um möglichen Verzögerungen oder Einschränkungen durch die Baubehörden oder Umweltschutzorganisationen vorzubeugen, beauftragte Finn ein nordisches Unternehmen, dessen Mitarbeiter unauffällig zu arbeiten gewohnt waren. Einer dieser Bauarbeiter war ein türkischstämmiger junger Mann namens Goran. Er fiel Finn durch seine wissenden Augen und seine kleine aber kräftige Statur auf. Bevor Finn seine Heimat verliess, war er zwei Jahre lang Meister des Kyokushin-Kaikan gewesen, einer asiatischen Kampfkunst, bei welcher im Vollkontakt gekämpft wurde. Er konnte einen Kämpfer sehr wohl von einem Hobbyboxer unterscheiden. Er erkannte in Goran jemanden, den er mit Respekt behandeln musste. Eines Abends zog er ihn beiseite und fragte, während er seinen durchtrainierten Körper musterte:
«Du warst bei den Streitkräften?» Goran schaute ihn einen Augenblick erstaunt an. Dann nickte er und antwortete:
«Minenboot»
Finn nickte zufrieden, dann konnte Goran also auch tauchen, wie er selbst. Er erinnerte sich, dass die Türken, nach den USA, am meisten aktive Soldaten innerhalb der NATO beschäftigten und nebst dem Heer und der Luftwaffe über eine schlagkräftige Marine verfügten. Finn wusste nicht, ob die Marine Minensuchboote befehligte, welche auch über Bordhubschrauber zur Minensuche verfügten, aber möglich war es schon. Goran schien Finns Gedanken lesen zu können, denn nach einer Weile fügte er an:
«Ich kann auch Helikopter fliegen». Finn nickte zufrieden.
«Willst du nach dem hier wieder nach Hause?» Goran schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sein Gesicht blieb regungslos. Finn entschied, ihn nicht nach seinen Gründen zu fragen.
«Hättest du Interesse an einer Festanstellung hier auf der Insel?» Ohne zu zögern nickte Goran.
Ein Jahr später bot Hans Wyss, auf Empfehlung von Finn, Goran und dessen Ehefrau Mila, eine Stelle als Hausbedienstete an. Da die Arbeit gut bezahlt wurde und Goran nicht in seine Heimat zurückwollte, zogen sie zusammen in die Wohnung des Bootshauses. Hans Wyss übersiedelte im gleichen Jahr in die inzwischen renovierte Villa.
Finns Hauptaufgabe war, die umfangreiche Sicherheitsanlage zu unterhalten und den Helikopter jederzeit startklar zu halten. Daneben war Finn auch Butler und Chauffeur. Goran war verantwortlich für die Pflege der umfangreichen Liegenschaft mit den zahlreichen Pflanzen, Wegen und Wasserspielen. Hans Wyss mochte den wortkargen, menschenscheuen und emotionslosen Mann nicht. Anders dessen Gattin Mila. Ihr Gesicht war ausdrucksvoll und sehr schön. Sie pflegte den Haushalt, kochte für ihn und seine seltenen Gäste und pflegte einen ertragsreichen Kräuter- und Gemüsegarten. Er beobachtete sie bisweilen, wenn sie sich ohne Kopftuch bewegte. Dann hatte sie ihre dichten, schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten.
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