Stefan schreckte zurück, als er merkte, dass er hier wohl in ein Wespennest gestochen hatte. Er und Phil konnten Gwens Worten nur zustimmen, da sie beide noch einiges in diesem Urlaub erleben wollten und beließen es dabei.
Kapitel 5
Die Planungen der nächsten Tage waren am vergangenen Abend schnell zusammengestellt.
Gwen freute sich auf einen Wellnesstag im nahegelegenen Vital Resort. Die Rezeption ihrer Unterkunft war bei der Reservierung behilflich und sie stellten für Gwen einen Rundum-Sorglos-Tag zusammen. Es war geplant, die Saunalandschaft mit ihren fünf Saunen und die Thermenlandschaft ausgiebig zu erkunden. Dazu kam noch ein Wellnesspaket, bestehend aus Körperpeeling und einer Massage. Die Männer schlossen sich dem Thermenbesuch an, überließen aber die Wellnessanwendung ausschließlich Gwen. Das sei nichts für Männer, sagten sie und ernteten von Gwen nur ein Kopfschütteln.
Die Bootstour auf dem Altaussee organisierte Stefan für den nächsten Tag. Mit einem Picknickkorb, den er über ihre Rezeption organisieren ließ, machten sie sich auf den Weg, den Altaussee per Solarboot zu erkunden. Das Wetter spielte mit und die siebenundzwanzig Grad ließen sich mit einem kleinen Lüftchen auf dem See gut ertragen. Am gegenüberliegenden Seeufer beendeten sie ihre Fahrt und picknickten ausgiebig beim Jagdhaus auf den Seewiesen. An den Rückweg wollte keiner so recht denken, als sie alle mit dicken Bäuchen auf der Decke lagen und in den Himmel und auf das Wasser hinausschauten. Stefan beobachtete Gwen sehr genau und er war der Meinung, dass sie sich etwas entspannt hatte. Entweder war es der Saunatag oder auch der heutige Ausflug, der sie an etwas anderes denken ließ. Ihm war aber durchaus klar, dass es einige Zeit dauern würde, bis sie ihren Tiefpunkt überwunden hätte.
Stefan stellte zur Wahl, ob sie mit dem Boot oder zu Fuß zu ihrem Auto zurückwollten, um wieder in die Unterkunft zu gelangen. Phil hatte in der Zwischenzeit schon einen weiteren Geocache herausgefunden, der am Seeufer verborgen sein musste. Daher nahm er den Erwachsenen die Wahl ab und sie fügten sich der Entscheidung zu Fuß zu gehen. Auf etwa halben Weg zu ihrem Parkplatz fand Phil auch, wonach er gesucht hatte.
Durch seine Erfolge dermaßen angespornt, hatte er sich in den Kopf gesetzt, den nächsten Tag zu einer Geocachewanderung zu machen.
»Hier sind wir neulich abgebogen, um zum Ziplining zu kommen. Diesmal müssen wir weiter in Richtung der Lichtung!«, rief Phil aufgeregt, sprang von der Bank auf und lief voran.
»Wir sind schon einige Stunden unterwegs und sollten vielleicht langsam an den Rückweg denken«, warf Gwen ein und massierte sich die Oberschenkel und Waden.
»Nun lass uns noch zur Lichtung gehen, damit Phil seinen Travelbug bergen kann, der dort versteckt sein soll. Er hatte das für neulich ja schon geplant, als wir dann zum Ziplining abgebogen waren. Danach werde ich vorschlagen den Rückweg anzutreten.«
Gwen nickte zustimmend und stöhnte, als sie sich von der Bank erhob und in Bewegung setzte. Bei jedem ihrer Schritte spürte sie den Muskelkater in den Waden. Durch die ganze Schreibtischarbeit war sie die körperliche Anstrengung gar nicht mehr gewohnt.
Phil war aufgeregt schon etwas vorausgelaufen, blieb dann aber stehen, um auf die beiden zu warten.
»Nun macht schon, ich will doch noch den Travelbug finden!«, rief Phil ihnen zu.
»Was ist das denn eigentlich?«, gestand Gwen ein, keine Ahnung zu haben, wovon er und Stefan eigentlich sprachen.
»Mama, das ist doch ganz einfach. Ich erkläre es dir noch einmal. In manchen Geocaches liegen nicht nur Dinge zum Tauschen und ein Logbuch, in welches man sich eintragen kann, sondern manchmal auch kleine Münzen oder andere Gegenstände mit Anhängern oder einer geprägten Kennung. Die kann man wiederum im Internet nachschlagen und dort nachlesen, welche Aufgaben diese kleinen Kerle erfüllen sollen. Manche wollen nur die Welt erkunden und freuen sich, wenn man sie lange bei sich trägt und weit weg einfach wieder in einem anderen Cache ablegt. Andere wollen zum Beispiel nur Kirchen in Deutschland sehen und wieder andere möchten alle Schlösser der Welt entdecken. Den Travelbug, den ich in dem nächsten Cache erwarte, der will zurück nach Deutschland und den Gefallen können wir ihm doch tun, oder?
»Dann musst du dich aber in Kiel wieder darum kümmern einen Geocache zu finden, in den er auch hineinpasst. Einige, die wir in den letzten Tagen gefunden hatten, waren ja nur sehr klein«, gab Gwen zu bedenken, als sie Phil eingeholt hatten.
»Ja, klar, das mache ich!«
»So, wie du auch immer versprichst mal dein Zimmer aufzuräumen oder die Spülmaschine auszuräumen oder den Müll rauszubringen?«
»Was bist du denn auf einmal so komisch, Mama?«
Stefan spürte, dass die Stimmung zu kippen drohte, nahm Gwens Hand und zog sie bergauf. »Wir beide werden uns darum kümmern, wenn wir wieder zu Hause sind. Mach dir bitte keine Sorgen, Gwen … und jetzt, lass uns die Lichtung finden und den letzten Anstieg meistern, damit wir das Ding finden. Danach machen wir uns dann auf den Weg ins Tal. Ich habe schon mächtig Hunger, ihr nicht auch?«
Gwen sagte nichts und versuchte eine möglichst freundliche Miene aufzusetzen.
Als sie die Lichtung erreichten blieben sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Phil startete seine Geocaching App, um den Abstand und die Richtung nun genau in Erfahrung zu bringen. Mit ein paar Handgriffen und magischen Kreisbewegungen seines Handys, hatte er den Kompass kalibriert und wartete nun auf das genaue GPS-Signal. Stefan sah Gwen an und zwinkerte ihr zu. Dann ging Phil langsam los und beobachtete die Kompassnadel auf seinem Handy ganz genau. Es waren nur noch einhunderteinundachtzig Meter und sie würden die Lichtung verlassen und wieder in den Wald abbiegen, soviel war klar. Die Nadel pendelte etwas, deutete aber immer wieder in Richtung Wald. Noch zweiundneunzig Meter und Phil wurde langsamer. Gwen und Stefan folgten ihm in einigem Abstand und unterhielten sich über das vor ihnen liegende Abendprogramm. Noch dreiundvierzig Meter, als er um die Kurve kam und von seinem Handy aufsah. Er sah die Steigung … und er sah noch etwas, was ihn wie angewurzelt stehen ließ.
Auch Gwen stockte der Atem, als sie ihren Sohn wie versteinert stehen sah. Blitzschnell erfasste sie die Situation und ihr war sofort klar, dass die Person im Graben Hilfe benötigte – wenn es nicht schon zu spät wäre.
Sie sprintete los und gab Stefan eine harsche Anweisung: »Versuch einen Notarzt zu verständigen!«
In ihrem Kopf liefen wieder die Bilder von Pauls Geburtstagsfeier ab. Wie sie feierten, anstießen und wie Paul zusammenbrach. Als Michael Peters, der Gerichtsmediziner, sofort zur Tat schritt und Paul helfen wollte. Wie sie den Notarztwagen holten und Paul ins Krankenhaus brachten … und schließlich, wie alle Wiederbelebungsversuche erfolglos blieben und Paul in der Nacht verstarb. Gwen hatte das Gefühl, wie in Zeitlupe zu laufen und die Bilder in ihrem Kopf kamen ihr surreal vor. Als wenn die Bilder über ihr schwebten, während sie hier im Wald in den Bergen zu der Person im Graben lief und sie alles als Außenstehende beobachten würde. Dabei war sie mittendrin. Wie in Trance erreichte sie den Graben und kniete sich neben den reglosen Körper.
»Hallo«, schüttelte sie ihn, »können Sie mich hören?« Sie drehte die Person auf die Seite. Sie war kalt und steif. Sie blickte in ein entstelltes und verdrecktes Gesicht, legte aber ihr Ohr an seine Nase und beobachtete den Brustkorb. Es gab keinerlei Anzeichen von Atmung. Kein Anzeichen von Leben. Gwen setzte sich resignierend neben den Toten.
»Was ist mit dem Notarzt? Hast du jemanden erreicht? Ich denke, wir brauchen eher nur die Polizei und einen Leichenwagen!«, richtete sie die ersten Worte an Stefan, als er auf sie zukam. Dann bemerkte sie, wie Phil immer noch starr die Szene beobachtete. Sie musste ihm eine Aufgabe geben, um ihn abzulenken.
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