Kapitel 4
Vom Flughafen Salzburg bis nach Altaussee fuhren sie nur eineinhalb Stunden in ihrem Mietwagen. Die Landschaft war traumhaft schön und Gwen, Stefan sowie Phil genossen die Fahrt durch die Berg- und Hügellandschaft. Sie freuten sich auf die freien Tage und die Unternehmungen, die sie zu dritt in Angriff nehmen wollten. Phil saß auf dem Rücksitz und war in sein Handy vertieft. Gwen fragte sich oft, was er die ganze Zeit darin zu lesen und zu tun hatte, aber sie hatte schon vor langer Zeit aufgegeben überhaupt zu fragen. Die Antworten waren immer die gleichen gewesen. ›Alles Mögliche!‹ oder ›Das ist zu kompliziert für dich Mama‹ und schließlich ›Ich chatte mit meinen Freunden, lass mich bitte‹. Als sie noch jung war, gab es nur die Möglichkeit mit ihren Freunden per Telefon oder Brief in Kontakt zu treten oder sich direkt zu treffen. Dazu brauchte es aber erst einmal eine Verabredung und die wurde meistens per Telefon geplant. Heute hingegen verabredeten sich die Jugendlichen zwanglos über irgendwelche Chatprogramme auf ihren Handys und justierten Zeit und Ort des Treffens bis zur letzten Minute. Für Gwen war das nichts. Sie brauchte Stabilität und Planungssicherheit, damit sie ihr Leben genießen konnte. Und der Plan war nun, zu ihrer Ferienunterkunft zu kommen.
Die Holzhütten mit den angrenzenden Skiliften im Sommer zu sehen, war etwas eigentümlich, da waren sich Gwen und Stefan einig. Phil war schon in der Hütte verschwunden, hatte sein Gepäck und sein Handy mitgenommen und wollte Benoit sofort von ihrem Domizil unterrichten. Gwen und Stefan erkundeten die Anlage. Sie bestand aus etwa vierzig Hütten, die mit Holz verkleidet waren. Im Zentrum lagen die Anmeldung und das Restaurant, während sich die einzelnen Wohnhäuser in der Umgebung dem Auf und Ab des Bodens anpassten. Die einzelnen Häuser hatten Platz für vier Personen oder auch für größere Gruppen. Die robuste Einrichtung ließ im Winter mit dem Kaminofen bestimmt eine heimelige Stimmung aufkommen, überlegte Gwen, als sie zurück zu ihrer Unterkunft kamen und sich um das Auspacken kümmerten. Dies sollte also der Ort der Ruhe und Entspannung für die nächsten vierzehn Tage sein, sinnierte sie vor sich hin, als Phil plötzlich auftauchte.
»Mama, kann ich kurz raus, um den ersten Geocache zu suchen?«
»Klar, aber lauf nicht so weit weg. Wir gehen bald zum Abendessen.« Die Tür klappte zu und es war fast still im Haus. Sie hörte nur vereinzelt knarrende Dielen im Obergeschoss und wusste, dass Stefan bereits beim Auspacken war.
Sie umarmte ihn von hinten und drückte ihn ganz fest an sich. »Das war eine riesige Idee hierher zu fahren. Ich habe dabei ein gutes Gefühl.«
Stefan drehte sich in der Umarmung um und fasste Gwen ganz fest an ihrer Taille. »Schön, dass du dich freust. Ich hoffe, du kannst hier gut entspannen.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Phil hatte gleich am Ankunftstag seinen ersten Geocache gefunden. Es war ein kleiner Cache, mit einem einfachen Schwierigkeitsgrad. Er war am Rande der Siedlung versteckt und Phil hatte schon einen ersten schönen Blick auf den ›Loser‹ erhaschen können – den Berg, den sie in den nächsten Tagen intensiver erkunden wollten. Der Name des Berges kam aus dem Mittelalter, als die Einwohner des Ortes auf den Berggipfel stiegen, um zu ›losen‹. Dies bedeutete in ihrem Dialekt ›horchen‹ oder ›lauschen‹, ob sie Kampflärm aus dem Ennstal wahrnehmen konnten. Phil freute sich schon auf die weiteren Caches, die auf dem Weg zum Gipfel versteckt sein würden.
Die ersten Tage vergingen, wie im Fluge. Dies lag nicht zuletzt an Stefans vierzigsten Geburtstag. Gwen hatte sich etwas ganz Besonderes ausgedacht, um den Tag gebührend zu feiern. Sie hatte Stefan in aller Frühe schon geweckt und hatte am Abend vorher ein Frühstückspaket organisiert. Dann war sie mit ihm und Phil zu einer nahegelegenen Anhöhe gefahren. Stefan traute seinen Augen nicht, als dort vor ihnen ein Transporter mit der Aufschrift ›Balloon Cruises‹ auf sie wartete. Stefan umarmte Gwen und hob sie in die Luft, denn er erkannte sofort, dass eine aufregende Ballonfahrt in einem Heißluftballon vor ihnen lag. Sie halfen mit, den Ballon aufzurüsten und startklar zu machen. Es sollte ein Erlebnis nur für sie drei und den Piloten sein.
Als sich der Ballon wie schwerelos in die Luft erhob und die Bäume unter ihnen immer kleiner wurden, erschauderte Gwen, als sie feststellte, wie klein der Mensch in dieser Welt doch war. Wie hilflos und verletzlich. Sie erinnerte sich schmerzlich an die schönen Zeiten, die sie mit Paul erlebt hatte. Die Ausflüge, die sie zusammen unternommen hatten und die Wärme, die er ausstrahlte, wenn er sie ansah und in den Arm nahm. All dies würde nie wieder passieren, denn Paul war nicht mehr bei ihr. Gwen starrte auf den Horizont und lies ihren Gedanken freien Lauf. Sie presste ihre Lippen zusammen und wurde dabei sehr traurig.
Stefan beobachtete Gwen aus den Augenwinkeln heraus, während er und Phil den lautlosen Aufstieg des Ballons und die herrliche Aussicht genossen. Nur der Brenner unterbracht die Stille von Zeit zu Zeit mit einem grollenden ›schuuuuuuub‹. Hier oben im Ballon verspürten sie keinen Luftzug, da sich der Ballon mit dem Wind in der gleichen Geschwindigkeit bewegte. Phil erspähte einen Steinbock und machte Stefan auf ihn aufmerksam. Aufgeregt zeigte er immer wieder an den Rand einer Lichtung, bis Stefan das prächtige Tier mit seinen beiden langen Hörnern sah. »Das muss ein Bock sein, ein männliches Tier«, merkte Stefan an und ergänzte, »die Weibchen, das sind die Geißen, haben nur kleinere gebogene Hörner.« Phil nickte nur beeindruckt und suchte den Boden weiter nach Tieren ab, während Stefan Gwen um die Taille fasste.
»Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, was ich jemals bekommen habe.«
»Das freut mich! Dann habe ich ja mein Ziel erreicht.« Gwen grinste etwas gequält.
»Ist mit dir alles in Ordnung? Du bist die Fahrt über so still. Geht es dir nicht gut?«
»Doch, doch, alles in Ordnung.« Sie beugte sich zu Stefan und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich denke nur gerade über die Vergangenheit nach … wir können das ja später noch besprechen.«
Nach der sehr sanften Landung halfen sie mit, den Ballon wieder zu einem handlichen, aber mordsschweren Paket zu verpacken und auf den Anhänger zu hieven. Danach wurden die drei Ballonfahrer zünftig, wie es sich gehört, getauft und während der Pilot seinen Spruch aufsagte, wurden die drei nacheinander in den Adelsstand erhoben und bekamen ihre Urkunden. Zurück im Appartement gönnten sie sich zum Abschluss des Tages noch eine Flasche Sekt, die Gwen im Kühlschrank ihres Domizils kaltgestellt hatte. Phil war müde und bereits im Bett, als Stefan Gwen auffordernd ansah. Sie verstand sofort.
»Du fragst dich bestimmt, warum ich etwas stiller als sonst war, als wir die Ballonfahrt hatten.« Stefan nickte zustimmend.
»Meine Gedanken kreisen halt noch oft um Paul, wie du dir sicherlich vorstellen kannst. Ich kann es einfach nicht von heute auf morgen abstellen, obwohl ich gedacht hatte, dass ich die Situation leicht bewältigen könnte. Dem ist aber nicht so. Immer, wenn ich zur Ruhe komme und wir etwas Schönes unternehmen, muss ich wieder an die schönen Zeiten mit Paul zurückdenken. Heute, als wir lautlos in den Himmel aufstiegen, war wieder so ein Moment. Die ganzen Erinnerungen an meine Zeit mit Paul waren auf einmal wieder da und ich hatte so ein hilfloses Gefühl, als ich die Erde von oben sah.«
»Ich hatte ja gehofft, dass dich die Ruhe und Erholung auf andere Gedanken bringt, aber das scheint ja nach hinten losgegangen zu sein.«
»Na ja, das würde ich so nicht sagen. Sicherlich hilft mir die Arbeit mich auf andere Gedanken zu bringen, aber auch die Zeit gemeinsam hier mit dir, lenkt mich ab. Ich brauche einfach nur noch mehr Zeit. Das verstehst du doch, oder?« Sie sah ihn flehend an.
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