Das Packen war Gwen schon immer ein Graus gewesen. Hatte sie an alles gedacht? Was, wenn noch etwas fehlte oder ihre Kleidung nicht zum Wetter passte? Dadurch würde sie sich aber den Urlaub nicht vermiesen lassen. Nicht, bevor er überhaupt angefangen hatte. Also legte sie Ihre Sachen heraus, die kombiniert am meisten Sinn ergaben und mit denen sie für alle Wetter gewappnet sein würde. Als sie die Stapel an Kleidung auf ihrem Bett und dem Fußboden überblickte, kamen ihr schon Zweifel, ob sie das alles überhaupt in den Koffer bekäme. Sie holte tief Luft und ging zu ihrem Sohn ins Zimmer.
Phil war mit dem Packen bereits fertig. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre alt, aber in manchen Dingen schon sehr weit entwickelt, dachte Gwen stolz. Sie hatte ihm einen eigenen Koffer zum Packen herausgestellt und jetzt hatten alle Dinge bereits darin ihren Platz gefunden. Sie konnte es kaum glauben.
»Bist du etwa schon mit Packen fertig, Phil?«, fragte Gwen ungläubig.
»Aber klar doch, Mama. Alles drin. Schuhe, Kleidung, für warme und kalte Tage. Auch an die Zahnbürste und so habe ich gedacht.« Phil grinste seine Mutter an. »Soll ich dir noch helfen?«
Gwen überlegte, ob sie sich die Blöße geben wollte, aber sie gab nach und nickte zögerlich. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Gwen um und verschwand im Schlafzimmer. Phil folgte ihr triumphierend.
»Dann wollen wir doch mal sehen…«, fing Phil an, als er die Stapel inspizierte. »Das sieht doch gar nicht mal so schlecht aus, wenn du für drei Monate verreisen würdest.« Gwen sah ihn nur beschämt an, sagte aber nichts. »Ich denke, wenn du von jedem Stapel die Hälfte dabeihast, dann reicht das auch allemal und sollte sich in einem Koffer verstauen lassen. Sag Bescheid, wenn ich dir noch helfen kann.« Phil machte kehrt und verschwand grinsend in seinem Zimmer. Er konnte sich das Lachen fast nicht verkneifen.
Gwen dachte über ihren neunmalklugen Sohn nach und überblickte die Kleiderstapel erneut, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass er wohl recht hatte. Also fing sie abermals an, die Stapel zu sortieren und mindestens die Hälfte der Wäschestücke wieder in den Schrank zu hängen. Wie sie das hasste! Es kamen ihr immer mehr Zweifel, ob sie auch wirklich immer noch genug dabeihatte und ob sie für alle Eventualitäten gerüstet war. Schließlich ließ sie sich auf das Bett fallen und betrachtete das Ergebnis. Es waren bedeutend weniger Stapel und sie hatte das Gefühl, dass sie auch damit sehr gut bestückt sein würde. Es würde schon passen, redete sie sich ein und stopfte alles in den Koffer. Erstaunlicherweise ging er sogar noch zu, was in den letzten Jahren nicht immer der Fall gewesen war. Wie oft hatte sie sich mit Paul in die Haare bekommen, wenn es darum ging die Koffer zu packen. Aber das waren nun alles nur noch Erinnerungen, die immer mehr verblassen würden.
Jetzt ist das ›Hier‹ und ›Heute‹ und so versuchte sie auch jeden Tag aufs Neue zu erleben. Es klingelte an der Tür. Phil sprintete die Treppe hinab und begrüßte Stefan, der zusammen mit dem Taxifahrer in den Windfang eintrat.
»Seid ihr beiden fertig?«, fragte er Phil, der sich nickend umdrehte, um seinen Koffer zu holen. »Wir können dann nämlich los.«
Ächzend kam Gwen auch die Treppe hinab und stellte ihren Koffer an die Wohnungstür. Sofort lud der Taxifahrer Gwens Koffer ein und wartete auf den des Jungen. Zwei Minuten später war alles verstaut und sie konnten zum Hauptbahnhof Kiel aufbrechen. Per Bus würden sie in neunzig Minuten am Hamburger Flughafen sein, wo der Flieger sie dann direkt nach Salzburg bringen würde. Phil und Stefan saßen bereits im Taxi, als Gwen, immer noch mit einem Gefühl etwas vergessen zu haben, die Tür zuzog und abschloss. Es war, als würde ihr ein Stein von der Seele fallen, als sie endlich im Taxi saß und sie losfuhren. Wer hätte gedacht, das Kofferpacken so anstrengend sein kann?
Kapitel 3
Die Sonne stand heute schon höher am Horizont, als er sich ein weiteres Mal die Schuhe schnürte, um seine Runde zu drehen. Er hatte mittlerweile den Dreh raus sich zu motivieren und hatte einen schönen, ungefähr zehn Kilometer langen Rundweg ausgekundschaftet, bei der er sich richtig austoben konnte. Er verließ seine Ferienwohnung und streckte sich vor der Tür. Er genoss den Anblick der zerklüfteten Berge und der Wälder, die sich die Hänge hinauf rankten, wie Efeu, der sich den Weg an einer Hauswand sucht. Das Wetter hatte ihn in seinem gesamten Urlaub nicht im Stich gelassen und er sog die frische Bergluft tief in seine Lungen ein. Nach einigen Kniebeugen und anderen Lockerungs- und Dehnübungen fing er langsam an loszutraben, um seine vorletzte Runde zu absolvieren, bevor er in den nächsten Tagen wieder nach Hause reisen würde.
Den ersten Kilometer ließ er es gewöhnlich langsam angehen und auch heute hatte er nicht vor, daran etwas zu ändern. Vielmehr genoss er die trockenen Wege, die sich durch den ersten Waldabschnitt schlängelten, vorbei an dem Ameisenhügel, dessen emsige Bewohner scheinbar immer etwas zu tun hatten. Er freute sich, dass er Urlaub hatte und nicht im Hamsterrad irgendeiner Firma seinen Job tat. Er war zwar selbstständig, kam aber gewöhnlich nicht vor vierzehn Stunden zur Ruhe. Auch nicht an den Wochenenden, die er so gerne mit Freunden verbracht hätte. Er lief an dem Hochsitz vorbei, der, wie auf Opfer wartend, am Waldrand stand und auf die Lichtung schaute. Der Gedanke, dass ein Jäger einem Tier auflauerte, um es aus der Entfernung zu erschießen, behagte ihm gar nicht. Daher hatte er sich schon oft vorgenommen komplett auf Fleisch zu verzichten, aber genauso, wie mit verschiedenen anderen seiner Vorsätze, hatte sich auch dieser nicht auf Dauer verwirklichen lassen. Vielmehr redete er sich ein, dass ein Jäger es auf Wild abgesehen hatte, wohingegen sein geschätztes Steak extra dafür gezüchtet wurde. Dieser Vergleich hinkte allerdings, dessen war er sich auch bewusst und so versuchte er seinen Fleischkonsum zumindest auf ein Minimum zu beschränken. Als er auf die offene Lichtung hinauslief, zog er das Tempo an. Heute fühlte er sich allen überlegen und ging an seine Grenzen, wie er meinte. Ein Marathonprofi hätte ihn bestimmt rückwärts laufend noch überholt, aber er war stolz auf seine Geschwindigkeit und schnaufte bedrohlich bei jedem seiner Schritte.
Die Schmerzen, die er auf einmal wieder in seiner Brust verspürte, beunruhigten ihn nicht, da er sie in den letzten Tagen schon öfter beim Laufen wahrgenommen hatte. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie das letzte Mal auch von selbst wieder verschwunden waren. Er fühlte sich fit und gab nicht nach, nur achtete er gezielt auf gleichmäßiges Ein- und Ausatmen. In der Vergangenheit war es gewöhnlich seine Milz, welche die vermehrte Blutmenge nicht liefern wollte, wenn er sich anstrengte. Das wird sicher gleich wieder vorbei sein, redete er sich selbst Mut zu.
Hinter der nächsten Kurve stieg der Weg steil an und wand sich wieder in den Wald hinein. Es war eine gute Gelegenheit das Tempo und die Anstrengung noch einmal zu steigern. Wären doch bloß diese stechenden Schmerzen in seiner Brust wieder verschwunden, aber bei jedem seiner Schritte spürte er, wie sich sein Körper gegen die Qualen wehrte. Als er die Steigung in Angriff nahm war er nicht mehr in der Lage gewesen noch schneller zu laufen. Er entschied sich dazu, einfach die Geschwindigkeit zu halten und zu hoffen, dass die Schmerzen nicht zunahmen. Er wankte nach links und sah den Graben auf sich zukommen. Er versuchte noch gegenzusteuern, aber seine Beine versagten bereits. Seine Augen waren zwar noch in der Lage den Graben zu erkennen, aber sein Gehirn vermochte keine ausreichenden Impulse mehr zu geben, um den bevorstehenden Sturz abzufangen. Als er vornüberkippte und ohne Gegenwehr in den Graben fiel, nahmen seine Sinne die Situation nicht mehr wahr. Als sein Körper auf dem Boden des ausgetrockneten Grabens aufschlug, verspürte er keinen Schmerz mehr, denn er war bereits tot.
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