»Schon gut! Aber das hätten Sie mir ja ruhig mal früher sagen können. Nun ist der Wein offen, verdammt!«
»Aber wie um Gotteswillen kann es sein, dass Sie nicht wissen, was dieser Wein wert ist, wenn Sie ihn doch im Schrank zu stehen haben?«
»Er war ein Geschenk von einem älteren Herrn; er ist hier Stammgast. Er hat ihn mir übergeben mit den Worten: ›Für eine ganz besondere Frau für einen ganz besonderen Moment‹. Nach den neuesten Erkenntnissen wirft es ein ganz anderes Licht auf seine Worte.« Nun hatten diese Gewicht. Damals hatte sie geglaubt, der Herr wollte mit ihr flirten. Sie war vollkommen aufgewühlt. »Wie komme ich denn dazu? Ich hatte ja nicht einmal Geburtstag!«
Er zog eine Braue hoch. »Jetzt fangen Sie bloß nicht an, sich verrückt oder kleinzumachen. Er hatte sicher einen guten Grund dafür, den Wein genau Ihnen zu schenken. Sonst hätte er es ja wohl nicht getan, oder?«
Sie nickte zur Ruhe gebracht. »Wissen Sie was, Gustav? Eigentlich haben Sie total recht!« Sie ahnte allerdings, dass sie noch einige Nächte brauchte, um über den Wert beziehungsweise den Verlust hinwegzukommen. »Es gibt nur ein Problem ...«
»Und das wäre?«
»Na ja, er war für einen besonderen Moment gedacht ...«
Nun erhob er sich auch vom Barhocker und nahm ein befülltes Weinglas auf. Er hielt es über die Theke zu Amalie hin, als würde er sich um einen Toast auf sie bemühen. »Dann machen wir eben diese Nacht zu einem besonderen Moment.« Dem zärtlichen Klang seiner Stimme folgte ein salbungsvoller Blick, der einmal mehr tief in ihren eindrang.
Sie war überzeugt, dass es schon lange einer war und hoffte, dass er es genauso empfand.
Mittlerweile hatten sich Amalie und ihr nächtlicher Gast an einen der Tische gesetzt, hatten die Nacht zum Tag gemacht und durch die angeregte Unterhaltung überhaupt gar nicht wahrgenommen, wie schnell die Zeit vergangen war. Doch sie hatten auch lange mal geschwiegen und die Stille der Nacht und den besinnlichen Ausblick in die weiße, lichterfrohe Fußgängerzone genossen.
Dann hatten sie sich einmal mehr über Gustavs Beruf unterhalten, doch auch über das Café und das abgebrochene Studium zur Psychologin, was er natürlich ganz spannend fand, denn nachdem er sie kennen gelernt hatte, war er überzeugt davon, dass sie ihre Berufswahl nicht besser hätte treffen können.
Dann hatte auch er einen Schlag aus seiner Jugend erzählt, was hingegen Amalie sehr faszinierend fand, denn er war, wie er sagte, einst ein hässlicher, mit Pickel übersäter kleiner, dicker Junge gewesen, der seine erste Freundin erst mit neunzehn gehabt hatte.
»Ich habe Reaktionen wie die Ihre schon zuhauf erlebt. Aber ich hatte wirklich nur drei feste Freundinnen seither und noch nie einen One-Night-Stand!«
Amalie hatte an eine Masche gedacht. Vielleicht wollte er sie auf die Weise für sich gewinnen! Und doch wollte sie ihm glauben, seit er erzählt hatte, dass er sich zeitlebens nach Liebe sehnte.
Er konnte keinen Sex haben, wenn er nicht liebte. »Ich weiß nicht einmal, was ich mit einer Frau tun soll, für die ich keine Gefühle habe. Es gehört für mich mehr zum Sex, als sie zu rammeln und dann heimzugehen, auf eine Art, als wäre ich eben beim Imbiss gewesen, um Pommes zu kaufen.«
Er hatte ihr aus dem Herzen gesprochen. Das hatte dazu geführt, dass sie mehr von Pete erzählte; davon, dass er ihr erster und einziger Mann gewesen war. Danach hatte sie jedoch keine Zeit und Lust für einen festen Freund gehabt und war deshalb, ganz im Gegensatz zu Gustav, nicht abgeneigt gewesen, mit einem Mann zu schlafen, für den sie keine Gefühle hatte. Dieser Mann war allerdings kein klassischer One-Night-Stand gewesen, sondern eine halbjährige Affäre während ihrer Studienzeit, welche sie beendet hatte, als sie zurückging, um sich um das Café zu kümmern.
»Der Sex war so aufregend, dass ich es nicht schon vorher beenden konnte. Viel aufregender als der, den ich mit Pete hatte. Pete war einfach zu jung, um zu verstehen, was eine Frau will. Das habe ich aber erst erkannt, als ich diese Affäre hatte. Er war schon Mitte dreißig, müssen Sie wissen.«
Und seine (recht unerwartete) Reaktion darauf war gewesen: »Oh, ich bin auch schon Mitte dreißig!«
Das hatte sie sprachlos gemacht. Zum einen, weil er sehr viel jünger aussah, zum anderen, weil es in dieser Verbindung mehr einer Anspielung, als einer schlichten Information glich. Doch egal, wie es gemeint war: Das Kribbeln auf der Haut, von dem sie in der Sekunde, in der die Worte seinen Mund verlassen hatten, überwältigt worden war, hatte sie beinahe um den Verstand gebracht.
Dann hatte sie sich aus der Vorstellung, wie Gustav sich im Bett wohl anstellte, herausretten wollen, indem sie das Thema möglichst drastisch wechselte. So hatte sie von ihren Eltern und von Uropa Theo begonnen zu erzählen, die bei dem Autounfall ums Leben gekommen waren. Und sie hatte es in der Tat geschafft, das Knistern in der Luft in Nullkommanichts im Keim zu ersticken. Allerdings hatte Gustav so ausgesehen, als wäre es ihm ähnlich recht gekommen. Er war sogar zutiefst betroffen davon, dass Amalie ihre Eltern zu früh und auf so dramatische Weise verloren hatte. Er musste nach all ihren Ausführung leider feststellen, dass sie offenbar ein ganz einsames Leben führte. Es kam ihm vor, als ob Amalie nur für das Café und Oma Minna lebte.
Gegenwärtig stand Amalie hinter der Theke und stützte sich mit den Armen darauf ab, während sie darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde. Der Kaffeeduft erfüllte das ganze Café und gab ihr ein anheimelndes Gefühl. Sie sah hinaus, um das frühe Treiben in der Fußgängerzone zu beobachten. Die Bäckerei nebendran hatte gerade die Türen geöffnet, und die ersten Kunden ließen auch nicht lange auf sich warten.
Sie warf einen kurzen Blick auf die große Wanduhr rechts neben sich. Es war sechs Uhr. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie die ganze Nacht mit einem wildfremden Mann verbracht und derart persönliche Gespräche mit ihm geführt hatte. Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln, denn sie war sich sicher, dass er genau dasselbe dachte.
Nun fühlte sie sich jedoch völlig matt. Bis zur Hochzeit waren es noch sieben Stunden. Wenn sie gleich jetzt ins Bett ginge, würde sie zumindest einigermaßen ausgeruht dort auftauchen.
Plötzlich schlich sich Oma Minna durch die Hintertür ins Café. Als Amalie sie um die Ecke kommen sah, ergraute sie vor Schreck. Das Geräusch hatte sie zwar vernommen, hatte dennoch mit Gustav gerechnet, der nur mal schnell für kleine Jungs musste.
»Was in aller Welt machst du hier, Kind?« Sie hatte Amalie wecken wollen, doch hatte sie nicht in ihrem Bett auffinden können. Da blieb ihr nur noch die Möglichkeit, im Café nachzusehen.
»Ich habe das Café auf Vordermann gebracht, Omili.« Sie war etwas genervt, doch sie ließ es sich nicht anmerken.
»Ist das dein Ernst? Die ganze Nacht hindurch?«
»Du machst dir unnötig Sorgen!«
Oma Minna war klar, dass ihre Urenkelin derart übermüdet nicht auf die Hochzeit gehen konnte. »Aber Kind, was soll ich mit einer Begleiterin, die vor Erschöpfung zusammenbricht?«
»Ich lege mich ja gleich für ein paar Minuten aufs Ohr«, versuchte sie, die Oma zu besänftigen. »Willst du auch einen Kaffee?«
Oma Minna nickte und warf ihr ein dankbares Lächeln zu. Sie setzte sich an den nächsten Tisch. »Du bist so gut zu mir, Amalie. Dabei bist du noch so jung und könntest viel mehr mit deinem Leben anstellen. Stattdessen opferst du dich für so eine alte Frau wie mich auf.«
Genervt verdrehte Amalie die Augen. »Du weißt ganz genau, dass mir das alles hier Spaß macht. Ich tue das wirklich gern. Also fange nicht ständig mit diesem Thema an.« Sie griff zur Kaffeemilch und goss etwas davon in die Tasse.
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