Sein Blick war eiskalt, als er zu Amalie hinausgetreten war, und hatte die Tür hinter sich herangezogen, um sie auszuschließen. Hatte er ihr nun ernsthaft weismachen wollen, dass Amalie das Problem war?
»Was maßt du dir an, mit mir so umzuspringen? Du bist hier der elende Feigling, der sich sang und klanglos aus dem Staub gemacht hat!« Sie hatte ihm eine Ohrfeige zu verpassen versucht, doch kurz vor seinem Gesicht hatte er ihre Handfessel zu greifen bekommen und Amalie gereizt zu sich heranzogen, so dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten.
Er kannte kein Erbarmen und hatte geraunt: »Ich würde dir raten, dich schleunigst zu verpissen, sonst wirst du mich kennen lernen!« So hatte sie ihn noch nie zuvor erlebt. Auf einmal hatte er wie ein aggressiver Schläger gewirkt. Zum ersten Mal hatte sie sich gefragt, ob sie nicht sogar froh darum gewesen sein sollte, dass sie ihn los war, denn offenbar hatte sie ihn nie wirklich gekannt.
Doch nur sicherheitshalber hatte sie klarstellen wollen, dass sie sich keine Angst einjagen ließ. Und: »Das werde ich tun, sobald ich erfahren habe, was ich falsch gemacht habe!« Dann hatte sie ihm fest in die Augen geschaut. »Und wenn dieses Flittchen aufhört, mich zu traktieren!«
Daraufhin hatte er ihren Arm wieder freigegeben und war einen Schritt zurückgewichen. Während er blind nach dem Türknauf gegriffen hatte, hatte er einfallslos erwidert: »Lass es gut sein.« Er hatte nicht vorgehabt, irgendetwas zu klären, denn dafür war er zu egoistisch. Seine größte, nein, einzige Sorge war gewesen, dass seine Eltern, das reiche, namhafte Edelkaufhaus-Ehepärchen, die Wahrheit erfahren würden. »Finde dich einfach damit ab, klar?«
Doch als er ihr den Rücken zugekehrt hatte, um wieder ins Haus zu gehen, hatte sich Amalie klammheimlich an ihm vorbeigezwängt und war schnurstracks ins Wohnzimmer gefegt, so schnell, dass Pete nicht gewusst hatte, wie ihm geschah.
Das hochmütige Gelächter war abrupt verstummt, sobald Amalie vor der Sippe stand. Vor Schreck hatte Marietta sich tatsächlich fast an ihrem Kloß verschluckt und die beiden Elternpaare hatten die Münder nicht mehr zubekommen vor Fassungslosigkeit und Amalie von Kopf bis Fuß angeglotzt.
Diesen Blicken hatte Amalie klar entnehmen können, dass es nicht nur ihre bloße Anwesenheit war, die sie in Erstaunen versetzt hatte, sondern hauptsächlich ihre durch das Unwetter recht verwilderte Erscheinung.
So hatte Amalie bewusst laut gerufen: »Na, schmeckt's?« Die Sippe war stumm geblieben und hatte Pete mit Blicken angebettelt, Amalie endlich hochkant hinauszuwerfen. Doch dann hatte sie auch schon weitergetobt: »Passe ich etwa nicht in eure feine Gesellschaft, oder weshalb seid ihr so froh, dass Marietta mich so schnell ersetzt hat? Und Marietta, warum gibst du mit deiner neuen Errungenschaft so an? Nicht nur, dass es weithin bekannt ist, dass du deine Liebschaften wechselst wie deine Unterwäsche, zudem bist du auch noch so dumm und glaubst, dass dieser Versager mit dir nicht dasselbe abziehen wird, wie mit mir.«
Mit seiner Hand hatte Pete das Zeichen eines Telefons gemacht, um zu signalisieren, dass er einen Anruf tätigen wolle. Er hatte sich zurückgezogen, so, dass Amalie es nicht mitbekam.
»Guck nicht so«, wetterte sie indes weiter, »das Arschloch in ihm ist eine schlechte Angewohnheit und keine kindische Phase! Glaubst du es nicht, weil du nicht betroffen bist?« Es war Marietta anzusehen, dass sie kurz ins Zweifeln geraten war.
Doch dann hatte sie diesen fiesen, arroganten Blick aufgesetzt und konterte (ziemlich gut, um ehrlich zu sein): »Und wieso regst du dich jetzt so auf? Dann solltest du doch froh sein, dass du ihn los bist, oder?« Es stimmte ja - damals wie heute.
Daraufhin hatte Amalie kurz nicht mehr so cool ausgesehen. Um das zu verschleiern, hatte sie sich mit den Händen auf den Esstisch gestemmt und ruhig, aber rüde erklärt: »Ich rege mich deshalb auf, weil ich mich nun mal ungern verarschen und fertigmachen lasse, Fräulein Scheinheilig!«
Als Rebecca Marquardt, Mariettas frostige Mutter, versucht hatte, sich für ihre Tochter starkzumachen, hatte Amalie deren halbvollen Teller mit einer lockeren Handbewegung auf den Boden geschoben. Es war eine absurde Geste gewesen, denn Amalie hatte es in einem derart langsamen Tempo getan, dass Rebecca alle Zeit der Welt gehabt hätte, sie davon abzuhalten. Vermutlich hatte niemand geglaubt, dass sie es wirklich durchziehen würde.
»Das ist ja wohl die Höhe!« Marietta hatte sich polternd von ihrem Stuhl erhoben. »Du bist total asozial!« Instinktiv hatte sie nach ihrem Wasserglas gegriffen und den Inhalt Amalie ins Gesicht geschüttet.
Wie eine Irre hatte Amalie nur laut aufgelacht und an sich heruntergeschaut: »Wirklich einfallsreich, Marietta! Als wäre ich nicht schon nass genug vom Regen!« Sie klatschte laschen Beifall.
Und da sie sich mit dieser unüberlegten Aktion selbst bloßgestellt hatte, hatte sie gekeift: »Kein Wunder, dass Pete dich verlassen hat!«
Da Pete in der Sekunde wieder in die Stube zurückgekehrt war, hatte er diese Bemerkung mitbekommen. So hatte er sofort geistesgegenwärtig reagieren können: »Halt die Klappe, Marietta!« Er hatte noch immer nicht gewollt, dass seine Eltern die Wahrheit erfuhren, obwohl es in diesem Moment nicht unschöner hätte werden können. Allerdings hätte Pete Amalie bis hierher notfalls völligen Wahnsinn unterstellen können.
Amalie hatte sich zu ihm umgewandt und den Kopf zur Seite geneigt, als sie sprach: »Du bist so ein Hosenscheißer, Pete!« Darauf hatte er ihr einen finsteren Blick zugeworfen. Unter anderen Umständen hätte ihr das durchaus Angst gemacht, doch sie hatte sich mit seinen Eltern im Hintergrund sicher gefühlt. »Nimmst du im Ernst an, deine Drohung von eben, vor der Tür, könnte mich einschüchtern?« Vielmehr hatte ihr die Drohung vermittelt, wie groß seine eigene Angst gewesen war. »Was könnte denn auffliegen? Dass du nicht dieser feine Pinkel bist, für den dich deine Eltern halten?«
Sein Zorn hatte alle Dämme gebrochen. Er hatte sie an beiden Oberarmen gepackt und durchgeschüttelt. »Du Hexe! Wieso tust du meinen Eltern das an?«
Eigentlich hatte sie ihnen rein gar nichts damit angetan, wie sie später erfahren hatte, außer, dass sie fortan immer mal wieder Ausflüchte für ihren triebhaften Sohn finden mussten. Der Wahrscheinlichkeit nach war es ihnen lieber, dass er das Unternehmen hasste, statt es später an die Wand fahren.
Im selben Augenblick hatte es wie wild an der Tür geklingelt. Sofort hatte Pete von Amalie abgelassen, war an die Haustür geschnellt und hatte die Polizeibeamten direkt ins Wohnzimmer geführt. Wie eine achtjährige Petze hatte er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Amalie gedeutet. Pete war klar gewesen, dass er Amalie vollkommen mühelos hätte rausschmeißen können, doch ihm war einfach nach Drama gewesen.
Die Beamten hatten sich kurz angehört, was passiert war. Dann hatten sie Amalie gebeten, mit ihnen mitzukommen, was sie auch ohne viel Federlesens getan hatte. Ihre Wut war ohnehin längst verflogen. Die Beamten hatten das Fahrrad in den Kofferraum geladen und sie seelenruhig nach Hause chauffiert.
»Mein Auftritt hatte nämlich keine Konsequenzen für mich. Denn was Pete nicht wusste, ist, dass die Beamten durch das Fenster sehen konnten, wie er mich geschüttelt hat. Sie fanden den Anruf also völlig überflüssig. Ich meine, hallo? Einer gegen sechs? Sie konnten doch nicht erwarten, dass die Beamten ihnen die Hilflosigkeit abnehmen würden«, schilderte Amalie kichernd das Ende vom Lied.
»Und wie lange ist das her?«, fragte Gustav zwar sehr amüsiert, aber ein bisschen mitgenommen.
»Etwas über vier Jahre.« Doch Amalie war anzusehen, dass sie inzwischen drüber hinweg war. Nur die Abneigung gegenüber Marietta war geblieben. Es war schon ein wenig sonderbar, wie gut sich hingegen Rebecca Marquardt und Oma Minna verstanden.
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