»Ich ... ähm!« Sie blickte nach links und rechts und musste feststellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Jedenfalls nichts, wobei er ihr helfen konnte. »Bin so weit, so gut fertig. Aber wir können gern noch etwas zusammen trinken!?«
Auf einmal war Amalie ganz nett zu dem fremden Mann. Was war passiert?
Sie musste sich eingestehen, dass er auf dem zweiten Blick ein viel sympathischeren Eindruck machte. Ihr gefiel seine Menschlichkeit, die sie ihm auf dem ersten Blick nicht zugetraut hatte. Er war ihr zunächst wie ein verwöhntes Muttersöhnchen vorgekommen, vielleicht auch wie ein Idealist mit einer gewissen Realitätsferne, der seine Mitmenschen schikanierte und sich Freunde kaufte.
Den granitfarbenen Daunenparka und das Jackett hatte er indessen abgelegt und im Hinterzimmer auf dem Sofa liegen gelassen. Die weinrote Krawatte hatte er weit gelockert, die ersten beiden Knöpfe des Hemdes geöffnet und die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Das dunkle, kurze Haar, das zuvor mit ausreichend viel Haargel nach hinten gekämmt war, war nun recht leger aufgewirbelt.
Er erkannte an ihren Augen, dass sie ihn von oben bis unten inspizierte. Er fand es auch gar nicht unangenehm, denn er wusste sehr wohl, wie er auf andere wirkte. Und dann waren sie zumeist (so, wie auch aktuell Amalie) recht überrascht, dass er nicht der Spießer war, der er in seinem steifen Anzug zu sein schien.
Er nahm ihren Vorschlag dankend entgegen. »Ich fürchte, ich brauche etwas Stärkeres für die Nerven.«
Während sie hinter die Theke ging, um sich für ein Getränk zur Verfügung zu stellen, fragte sie schmunzelnd: »Wegen mir? Oder wegen des Unfalls?« Dann wandte sie sich um und ging in die Knie, um eine Flasche Whisky herauszuholen. »Genügen Ihnen in etwa diese Umdrehungen?«
Er begrüßte den Whisky mit einem Kopfnicken.
Dann seufzte er: »Ich verstehe gar nicht, wo plötzlich dieser Schneesturm herkam!« Er richtete seinen Blick leicht beängstigt hinaus. Er befürchtete, dass sein Auto bis morgen ganz und gar von Schnee bedeckt sein und er es nicht mehr wiederfinden würde, obwohl der Sturm sich langsam legte und die Schneeflocken begannen, ausgewogen zu Boden zu segeln.
Nachdem sie ihm den Alkohol eingeschenkt hatte, ließ sich Amalie auf einen der Barhocker vor der Theke nieder und legte ihre Hände auf der Holzplatte ab. Sie fühlte sich erschöpft, doch das ließ sie nicht erkennen. Sie mochte es nicht, wenn sie jemand für schwach hielt. So nahm sie nebenbei den Putzlappen auf, der einsam auf der Theke lag, und ballte ihn in ihrer Rechten, als müsste sie ewige Arbeitsbereitschaft demonstrieren oder sich einfach an irgendetwas Vertrautem festhalten.
Na ja, sie saß nach wie vor einem fremden Mann zur Seite, der, zugegeben, von Minute zu Minute attraktiver auf sie wirkte (auch ganz ohne Alkohol), und trotzdem nicht wusste, über was sie sich mit ihm unterhalten sollte. Bisher hatte sie lediglich die vergrämte Gastgeberin gegeben, was ihr selbst gar nicht gefiel, da Gustav sich viel galanter zeigte.
Er nahm das Whiskyglas zur Hand, roch daran und nahm einen großzügigen Schluck daraus. Er schüttelte sich. »Scheiße!« Seine Augen wurden feucht. Er lachte: »Ich trinke selten so was Hartes.«
»Wieso sagen Sie das denn nicht gleich? Ich habe auch Wein da.« Sie war im Begriff, erneut hinter die Theke zu eilen, als er seine Hand auf ihren Arm legte.
»Nein, lassen Sie es gut sein. Ich sagte, ich brauche etwas für die Nerven und nicht, dass ich mich betrinken will.« Sein Lächeln war sanft. Beinahe so, als wolle er sie schonen.
Sie fixierte sein Gesicht. Es hatte wunderbar markante Züge. Besonders das breite, stoppelige Kinn mit dem Grübchen fiel ihr sofort ins Auge. Und dann blickte sie in seine klaren grünen Augen. Der Blick scheute ihren nicht. Es war, als würden diese Augen tief in ihre Seele eindringen.
Innere Panik ergriff sie. Sie musste seinem Blick weichen. So geht das nicht! Sie drehte ihren Kopf verstört weg. »Nun gut! Wie kommt es, dass niemand Sie vermisst?«
Er versuchte, ihr zu folgen. Erfolglos. »Bitte?«
»Sie haben das Telefon abgelehnt. Erwartet Sie denn niemand daheim?«
Dann lachte er etwas überfordert, wie sie fand. Er winkte ab: »Nicht diese Nacht.«
Sie spürte, dass er ungern darüber sprechen wollte. Deshalb wechselte sie geflissentlich das Thema. Sie wollte sich nicht in die Nesseln setzen. »Und? Was machen Sie so beruflich?«Die Frage musste ja früher oder später kommen, wenn man ihn im Anzug kennen lernte. Doch er verstand es, sich in dieser Hinsicht gelassen zu geben. »Ich bin Architekt.«
»Architekt«, wiederholte sie nachdenklich. Irgendwie konnte sie damit nichts anfangen. Vielleicht, weil es ihr wenig produktiv erschien. Und vielleicht auch, weil es offenbar in einem solchen Leben unentwegt um Geld ging. Eigentlich sogar mehr ums Geld als um die Arbeit. »Und das sind Sie so richtig mit Leib und Seele, ja?« Das klang ziemlich provokant.
Er verstand nicht, warum sie dieser Beruf so anstieß! »Na ja, offen gesagt ...« Er unterbrach sich. Sollte er mit dieser fremden Frau wirklich derart private Details teilen? Irgendwie kam ihm der heutige Abend rätselhaft vor. War es ein Zeichen? Sollte dieser ihm irgendetwas Wichtiges mitteilen? Gut, es konnte auch sein, dass er sich abermals verrückt machte. Doch warum hatte er das Bedürfnis, mit der Fremden, die so gar nicht in das Leben, was er führte, passte, darüber zu reden?
»Warum drücken Sie plötzlich auf die Bremse?«
»Na, weil ich gerade feststellen musste, dass ich Sie gar nicht kenne, und es ist ganz schön eigenartig, dass Sie mir das Gefühl geben, als wären wir alte Freunde. Ist das nicht absurd?«
Ja, das war es, wenn sie bedachte, dass keine Frau nur ein Kumpel für dieses Bildnis von einem Mann sein konnte. Ein solcher Mann war nicht dafür gemacht.
»Ja, vor allem, wenn man bedenkt, wie unhöflich ich eben noch zu Ihnen war.« Sie grinste kess.
Er nahm ihr die Reaktion seiner Ankunft nicht mehr übel. Ehrlich gesagt war es ihm sogar schon wieder entfallen. Es hatte kein Gewicht mehr, nachdem sie nun so gesellig war. Außerdem bemerkte er durchaus, dass sie ihn sympathisch fand und es ihr gar Vergnügen bereitete, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Er sah es daran, dass sie schon längst ins Bett hätte gehen können, da sich doch die Müdigkeit so augenfällig in ihren Zügen abzeichnete, sich jedoch entschieden hatte, ihm Gesellschaft zu leisten.
»Okay!« Er traute seinem Bauchgefühl, sich Amalie gegenüber offen äußern zu können. »Eigentlich hat mich mein Vater als Teilhaber eingetragen. Ich habe nicht einmal Architektur studiert, so wie mein Vater. Ich bin damit aufgewachsen, wurde von ihm gelehrt, besitze also all das nötige Wissen, um das Unternehmen voranzutreiben, aber das Werk hat mein Vater vollbracht.«
Ihr schwante, worauf Gustav hinaus wollte. »Lassen Sie mich raten: Und eigentlich sind Sie in dieser Stellung total unglücklich und Sie träumen von etwas ganz anderem?«
Er war etwas verunsichert, zugleich bewunderte er ihre Menschenkenntnis. Doch was hatte er von jemandem erwartet, der in einem lokalen Gewerbe tätig und tagtäglich mit vielen verschiedenen Charakteren konfrontiert war?
»Was hat mich verraten?«
»Dass Sie sich so außen vor lassen. Nun gut, und das Wort ›eigentlich‹ finde ich außerdem sehr fehl am Platze, wenn man im Grunde seines Herzen glücklich ist.«
Er nickte bestätigend. »Ich mache meine Arbeit pflicht- und verantwortungsbewusst. Ich werde dafür bezahlt, dass ich meine Arbeit gut mache. Aber genau genommen habe ich mich immer schon für Autos interessiert. Ich wollte meinen Vater lediglich nicht enttäuschen.«
»Dafür haben Sie aber genug Geld, um so«, sie wies mit der Hand auf sein Erscheinungsbild hin, »herumlaufen und kleine Cafébetreiberinnen beeindrucken zu können.« Sie zwinkerte ihm neckisch zu. Dabei wollte sie gar nicht flirten.
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