»Gewiss! Denn in den Kreisen, in denen ich sonst so verkehre, legt man nicht nur Wert auf das, was Sie an mir kritisieren, sie verlangen es sogar von mir ab. Und damit Sie mich nicht wieder falsch verstehen: Nein, ich habe überhaupt kein Problem mit Ihnen, sondern Sie mit mir!«
Es ärgerte sie, dass er recht hatte. Es war sie gewesen, die ihn aufgrund seiner bloßen Erscheinung verurteilt hatte.
Sie ließ sich nichts anmerken. »Das klingt ganz danach, als hätten Sie es gern schlichter?«
Er grübelte. »Es widert mich nicht direkt an, aber Ihre Welt ist zum Beispiel viel ehrlicher und natürlicher. Es macht es deshalb einfacher.«
»Einfacher? Wenn ich da so an meine Probleme denke ...«
»Aber die Probleme sind echt, verstehen Sie? In dieser snobistischen Gesellschaft ist ein echtes Problem schon, wenn der Kaviar ausgeht.« Zugleich wollte ihm nicht in den Kopf, dass Amalie Probleme hatte. Sie wirkte gar nicht wie jemand, der es schwierig hatte. »Nennen Sie mir ein Problem, das Sie quält.«
Sie war sich gar nicht bewusst darüber, dass er durch ihre Äußerung davon ausging, dass es sie quälte . »Na ja ... also ...« Sollte sie es wagen? Warum eigentlich nicht? Gustav fiel die Offenheit ja auch nicht schwer. »Das Geschäft läuft nicht so gut. Wir leben am Existenzminimum. Aber ich möchte es nicht aufgeben, weil es seit fast siebzig Jahren existiert.«
»Ist es ein Familienunternehmen?«
Sie nickte bedrückt.
»Natürlich ist es das!« Warum sonst sollte jemand freiwillig am Existenzminimum leben? »Und wenn ich Ihnen helfe?«
»Wobei?«, war sie beunruhigt.
»Ich könnte Ihnen finanziell etwas ...«
»Das kommt gar nicht in die Tüte!«, erhob sie die Stimme. Sie war empört. Sie wäre es bei jedem gewesen. Doch bei ihm war sie es besonders.
Mit dieser Reaktion musste er ja rechnen. »Aber jetzt, da ich das Café und die dazugehörige Betreiberin kenne, möchte ich nicht, dass es pleite geht.«
»Wissen Sie, Ihr Geld wird daran nichts ändern. Sie haben wirklich keine Ahnung, worum es hier geht.« Dachte er, man konnte im Leben alles mit Geld regeln? Selbstverständlich denkt er das; das denken nämlich alle Geldleute!
»Dann erklären Sie es mir eben, anstatt mich so derb anzugehen!« Er sagte es absichtlich geschwollen.
Sie blickte kurz zu Boden, dann wieder zu ihm auf. »Ich hätte damit nicht anfangen sollen. Entschuldigen Sie, das ist unfair!«
Er schüttelte den Kopf: »Das muss Ihnen nicht leidtun. Ich möchte es aber verstehen. Also erzählen Sie schon, Amalie.«
»Nun gut.« Sie atmete tief durch, um sich zu besinnen. »Es geht mir um das Café und nicht darum, dass ich am Existenzminimum lebe. Mithilfe Ihres Geldes kann es natürlich fortbestehen, aber was habe ich davon, wenn niemand das Bedürfnis hat, hierher zu kommen?«
Je klarer er sich darüber wurde, wie sehr ihr Herz und Blut an dem Unternehmen hing, desto trauriger machte es ihn. Erst jetzt begriff er, dass es um den ideellen Wert ging. Und er wollte sich ohrfeigen, dass er nicht von allein darauf gekommen war.
»Nun muss ich mich aber bei Ihnen entschuldigen. Ich bin verdammt unaufmerksam!«
»Lassen Sie uns besser das Thema wechseln, in Ordnung?«
Er wäre ein Narr gewesen, wenn er Einwände gehabt hätte. Erleichtert schnaufte er durch.
»Na schön, dann erzählen Sie mir von der Hochzeit, zu der Sie sich morgen hinzwingen müssen!« Unweigerlich musste er sich vorstellen, dass sie die Braut war. Urkomisch!
Sie stieß einen Seufzer aus. »Dieses Thema ist nicht gerade besser«, erklärte sie gackernd.
»Sagen Sie bloß?« Irgendwie machte es ihn neugierig. Doch wenn er nun wieder nachhakte, würde er sich gegebenenfalls ein weiteres Mal bei ihr unbeliebt machen. Er war also im Zwiespalt.
Da es kein Geheimnis war, dass sie nur widerwillig auf die Hochzeit ging, antworte sie schon von sich aus: »Ich könnte mir meinen freien Tag wirklich besser vorstellen, aber meine Oma besteht darauf, dass ich sie begleite. Gut, sie ist sehr alt und ist auf meine Schulter angewiesen, aber ausgerechnet dort?«
Er verstand nur Bahnhof. »Wieso? Was ist denn dort - also, außer die Hochzeit?«
»Die Frage ist nicht, was dort ist, sondern wer!«
»Also gut! Wer?« Atemlos vor Spannung starrte er sie an.
»Marietta!« Sie verdrehte die Augen, während sie den Namen aussprach. Und ein langer Seufzer folgte.
Seine Lider flatterten aufgeregt. »Und was ist an dieser Marietta so verkehrt?«
»Alles!« Das klang sehr global.
»Das ist ... viel!«
Sie zischelte durch die Zähne. Auch wenn allein der Name dieser Frau Herzrhythmusstörungen bei Amalie auslöste, tat sie kund: »Es ist ja nicht so, dass wir jedes Mal die Messer wetzen, sobald sich zufällig unsere Wege kreuzen, doch es gibt nach wie vor keinen Grund, warum wir einander mögen sollten.« Sie machte eine Pause, um zu verschnaufen. Der Gedanke an dieses Miststück raubte ihr buchstäblich den Atem.
Marietta lebte zwei Orte weiter. Doch das war nicht immer so. Amalie und sie waren einmal Nachbarskinder gewesen und wuchsen miteinander auf. Sie hatten Tür an Tür gelebt, gingen sogar in ein und dieselbe Schulklasse.
Marietta war schon immer eine kleine Diva gewesen. Im zarten Alter von zwölf lernte sie bereits den kleinen Finger abzuspreizen und behandelte jeden von oben herab. Mit dreizehn hatte sie begonnen, sich zu schminken, wodurch sie ausgesehen hatte, als wäre sie von den Eltern auf den Kinderstrich (oder mindestens in eine Clownschule) geschickt worden. Amalie dagegen war schon immer der natürliche Typ gewesen. Sie hatte sogar lieber mit den Jungs Fußball gespielt als mit Mädchen und Puppen.
Doch die unterschiedlichen Charaktere waren nur der Grund dafür gewesen, dass sie nichts miteinander anzufangen wussten. Was Amalie dazu gebracht hatte, Marietta zu hassen, war Pete.
Pete war Amalies erste und einzige Liebe gewesen, mit dem sie sage und schreibe fünf Jahre ihres Lebens geteilt hatte. Sie war sechzehn, als sie ihn kennen gelernt hatte. Mit ihm hatte sie ihren ersten Kuss, den ersten Sex und Verlobungsringe ausgetauscht.
Bis Marietta ihr die Jugendliebe ausgespannt hatte. Sie hatten nicht einmal eine Affäre gehabt. Pete war einfach abgehauen, von einem Tag auf den anderen, als ob Amalie nur ein Schatten seines Lebens gewesen wäre. Er war prompt bei Marietta eingezogen. Und als sei das nicht schon erniedrigend genug, hatte Marietta ihren Triumph offen hinausgetragen. Amalie war durchgedreht. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten und musste der Schikane Einhalt gebieten. In Gedanken war sie zweihundert verschiedene Mordvarianten durchgegangen, während der starke Wind den Regen heftig in ihr Gesicht gepeitscht und sie einige Male fast vom Fahrrad gestoßen hatte. Sie war wie paralysiert gewesen, so dass sie frei von jedem Schmerz war.
Und als sie dann mit triefend nassen, strähnigen Haaren, der zerlaufenen Schminke und der durchtränkten Kleidung vor Mariettas Tür gestanden hatte, schwoll ihre Wut an. Es war schon dunkel gewesen, deshalb hatte im Innern des Hauses das Licht gebrannt. Sie hatte durch das Wohnzimmerfenster das friedliche Beisammensein der beiden Liebenden und dessen Eltern sehen können: wie Pete und Marietta beim Abendessen vertraut nebeneinander saßen, mit dem Besteck in der Hand kauten und lachten und sich zwischendurch einen Kuss auf die Lippen drückten, als hätte Amalie niemals existiert. Doch vielmehr hatte sie sich durch die Eltern gedemütigt gefühlt, weil sie sich gaben, als ob es niemals anders gewesen wäre. Es war so unvorstellbar kränkend.
In ihrer Rage hatte sie mit dem Fuß gegen die massive Holztür getreten und gebrüllt: »Ihr Verräter! Ihr sollt allesamt qualvoll an euren Knödeln ersticken!«
Pete hatte sich angeboten, die Tür zu öffnen und das zu regeln, schließlich hatte er es ja auch verbockt.
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