Anton Winkler
Leben auf den zweiten Blick
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Inhaltsverzeichnis
Titel Anton Winkler Leben auf den zweiten Blick Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Der Tag fing nicht gut an, ganz und gar nicht. Zwar konnte er kaum behaupten, dass in letzter Zeit überhaupt ein Tag gut angefangen hätte, geschweige denn erfreulich verlaufen wäre oder einen angenehmen Ausklang gefunden hätte: Markus hatte zunehmend das Gefühl, dass sein ganzes Leben nur noch aus einer einzigen Ansammlung missratener Tage bestand.
Aber heute ging es ganz besonders unangenehm los, so viel stand fest. Dass die folgenden Ereignisse ihn zu der Entscheidung führen sollten, seinem Leben in dieser Form ein Ende zu bereiten, konnte er freilich noch nicht ahnen.
Allerdings fühlte er sich wie ein alter Mann, wie ein gebrechlicher Greis, der stumpf und unter Schmerzen dem Ende seines Daseins entgegen vegetiert, als er sich verschwitzt aus seiner Bettdecke schälte. Und er roch auch so, wie er zu seinem Missfallen feststellen musste, als er routinemäßig sein T-Shirt einer Geruchsprobe unterzog. Wie ein alter Opa aus dem Seniorenheim. Widerlich.
Angeekelt und von dem dringenden Wunsch nach einer Dusche erfüllt, öffnete er das Fenster und konnte sich bei dieser Gelegenheit davon überzeugen, dass er nicht nur nach Schweiß müffelte, sondern sich offenbar im Schlaf den Hals verrenkt hatte. Na fabelhaft, dachte Markus mit einer deutlichen Spur von Sarkasmus, das ist ja wie in einem schlechten Film, als er in Richtung Badezimmer wankte. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand eine Schneeschaufel zwischen die Schulterblätter gerammt und würde bei jeder Bewegung, die er machte, noch einmal nachstoßen.
Ein dröhnendes Pochen in seinen Schläfen erinnerte ihn an seinen Vorsatz, weniger Rotwein zu trinken, den er aber – so viel Ehrlichkeit sich selbst gegenüber musste schon sein – am Vorabend eigentlich nur deshalb gefasst hatte, weil der Bestand in seinem Weinregal sich aktuell auf eine Flasche 2004er Lambrusco „Edition Zack-Umzüge“ beschränkte, ein billiges Werbegeschenk, das er selbst im Zustand fortgeschrittener Alkoholisierung nicht anzurühren wagte.
Ein Glück, dass Anne schon in die Schule gefahren ist und mich jetzt nicht sehen kann, dachte er, als er sich vor dem Spiegel ein Bild seiner desolaten physischen Gesamtverfassung machte. Obwohl – sie musste ja wohl wahrgenommen haben, wie er schwitzend und miefend, wahrscheinlich auch noch schnarchend, neben ihr im Bett gelegen hatte.
Er war blass und fahl im Gesicht, was durch eine rotweinbedingte leicht bläuliche Färbung seiner Lippen besonders zur Geltung gebracht wurde. Immerhin korrespondierte die Farbgebung hier trefflich mit den Ringen unter seinen Augen, die von einer Vielzahl kleiner Fältchen – Krähenfüße, so nannte man die wohl – eingerahmt wurde. Fortgeschrittene Geheimratsecken ließen ihn etwas älter wirken als seine 32 Jahre, die aber sowieso nicht seinem gefühlten Alter entsprachen, schon gar nicht an diesem Morgen.
Im Grunde hätte er dies gern in Kauf genommen, wenn die Geheimratsecken nur im Einklang mit einer entsprechenden beruflichen Stellung gestanden hätten. Davon war er allerdings weit entfernt, eine ernüchternde Erkenntnis, die zwar nicht neu war, in diesem Moment aber sprichwörtliche Wirkung zeigte.
Er musste etwas an seinem Leben ändern, diese Einsicht erfüllte schlagartig seinen spärlich behaarten Schädel, als hätte jemand eine Glühbirne angeknipst. Die Nebelglocke aus Restalkohol, die sein Gehirn eben noch verdunkelt hatte, wich ganz unvermittelt einem befreienden Gefühl von Klarheit.
Das Dumme war, dass er bloß noch nicht genau wusste, wie diese Änderung aussehen sollte.
Daher beschloss er, Schritt für Schritt vorzugehen und mit dem Naheliegenden zu beginnen, indem er sich rasierte und den unteren Teil seines Kopfes von überflüssigen Haaren befreite, die doch an anderer Stelle so unvergleichlich viel besser aufgehoben gewesen wären. Wie seltsam widersinnig die Welt manchmal ist, dachte Markus.
Nachdem er seinen Körper mithilfe allerlei kosmetischer Maßnahmen notdürftig in einen Zustand versetzt hatte, der ihm zumindest ansatzweise geeignet erschien, den vor ihm liegenden Tag einigermaßen würdevoll in Angriff zu nehmen, begab er sich in die Küche, um sein übliches Frühstück zu sich zu nehmen, bestehend aus Toast mit Marmelade und Kaffee. Letzteres gestaltete sich jedoch problematisch, da er offenbar vergessen hatte, neue Kapseln für die vollautomatische Maschine zu kaufen, die Anne ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, die er aber eigentlich gar nicht mochte, da er die Mode albern fand, nur noch Espresso, Latte macchiato und Crema zu trinken. Er wäre auch mit stinknormalem Filterkaffee zufrieden gewesen, sofern er nur Kaffeefilter im Haus gehabt hätte. Leider fand er aber trotz genervter Suche in diversen Schränken und Schubladen keinen Hinweis darauf, dass dies der Fall sein könnte, sodass er sich schließlich mit der türkischen Variante behalf und ein wenig Kaffeepulver, das bereits vor drei Jahren abgelaufen war, mit heißem Wasser aufgoss und sich prompt mit dem ersten Schluck die Zunge verbrannte.
In dem Bewusstsein – oder eher: der Hoffnung, dass es nach diesem holprigen Start eigentlich nur noch besser werden konnte, ließ er sich an dem kleinen Bistrotisch in der Küche nieder und klappte sein Notebook auf, während er aß.
Er klickte zunächst einige Meldungen auf dem Nachrichtenportal an, das er als Startseite eingerichtet hatte, wodurch er sich gleich ein bisschen besser fühlte.
Immerhin hatte heute bislang weder ein islamistischer Attentäter versucht, ihn mit einer Nagelbombe in Luft zu sprengen, noch war – soweit ein flüchtiger Blick aus dem Fenster erkennen ließ – in seiner Nachbarschaft eine Flüchtlingsunterkunft unter dem Gejohle eines pöbelnden, wütenden Mobs in Flammen aufgegangen. Offensichtlich gab es Leute, die wesentlich übler dran waren als er selbst. Wie tröstlich.
Er sah auf die Uhr – viertel vor zehn, also hätte er noch ein bisschen Zeit, um an seiner Masterarbeit weiterzuschreiben, bevor er zur Arbeit musste. „Textsortenspezifische Merkmale nominaler Satzstrukturen im Kommunikationsbereich Börse“ lautete das Thema, und die Arbeit an dem diesem linguistischen Traktat, mit dem er nach 18 Semestern endlich einen Schlussstrich unter sein Lehramtsstudium zu ziehen und seinem Ziel, Deutschlehrer zu werden, ein Stück näher zu kommen hoffte, gestaltete sich mindestens so sperrig und zäh, wie der Titel vermuten ließ. Das trockene, dröge, sogenannte wissenschaftliche Arbeiten behagte ihm überhaupt nicht. Dabei lag ihm eigentlich das Schreiben, der Umgang mit Sprache. Vor Jahren hatte er sogar einen Roman angefangen, „Der Sinn des Lebens“, der aber nie über den Status eines losen Fragments hinausgekommen war. Ihm fehlte eindeutig die Disziplin.
Markus war ein Meister der Prokrastination, so nannte man das krankhafte Vermeiden und Verschieben unangenehmer Aufgaben. Und auch jetzt ertappte er sich mal wieder dabei, wie er – fast schon automatisch und ohne bewusste Entscheidung – plötzlich in die Website „Aktienmeister.de“ vertieft war, ein Forum für Hobby-Trader und Glücksritter, die versuchten, mit Aktien obskurer und dubioser Firmen, die häufig nur aus Briefkästen in der Karibik bestanden, den finanziellen Durchbruch zu schaffen. Fast so, wie andere Leute Lotto spielten.
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