Der ganze Zauber der Situation hatte sich schlagartig verflüchtigt. Da war sie wieder, die unangenehme Realität. Anne hatte sich immer gefragt, wie er wohl reagieren würde, wenn er erführe, dass er Vater werden würde, als sie noch ernsthaft geplant hatte, mit Markus eine Familie zu gründen. Und da saß sie nun, schwanger von einem Anderen, von Tom, dem Sportlehrer, und als wäre das nicht schon schwierig genug, sagte der nicht etwa „Schön!“ oder „Ich freue mich“, sondern nur „Von wem?“ – oder war sie da ein bisschen zu romantisch-naiv?
Ärgerten sich nicht fast alle Frauen darüber, dass ihre Männer Anbetracht solch froher Botschaften regelmäßig die falschen Worte wählten?
Immerhin – Tom gab sich redliche Mühe, den dümmlichen Gesichtsausdruck, den er im ersten Moment der vollkommenen Überraschung und Verwirrung gezeigt hatte, durch einen der Situation angemesseneren zu ersetzen und stellte wiederholt fest, während er sein Gemächt säuberlich in seiner Jeans verstaute, dass das ja nun mal eine Neuigkeit sei, die er definitiv erst mal verarbeiten müsse, also damit habe er ja nun echt nicht gerechnet, da sei sicherlich auch irgendwo ein Stück weit Freude, aber das sei ja definitiv erst mal ein Hammer.
Es bestand also durchaus Hoffnung, dass er sich nicht von ihr abwenden würde.
„Ich rede gleich heute Abend mit Markus“, sagte Anne, während sie ihre Kopien in ihrer Tasche verstaute und dabei schon wieder ganz geschäftsmäßig aussah, als wäre nichts gewesen. Nicht dass noch jemand davon Wind bekam, dass hier im Repro-Center regelmäßige Work-outs der anderen Art stattfanden.
Tom quittierte dies mit der Beteuerung, sie würden dann telefonieren und mit der Anmerkung, das werde wohl auch für Markus definitiv ein Schock sein.
Sicherheitshalber verließen sie den Raum leicht zeitversetzt, damit niemand Verdacht schöpfte. Sie konnte jetzt nichts weniger gebrauchen als einen der bissigen Kommentare etwa des Kollegen Karminsky, bei dessen anzüglichen Bemerkungen Anne stets zweifelte, ob er einfach nur ein sarkastisches Arschloch war oder ob er etwas von ihrer Affäre – oder sollte sie jetzt sagen Beziehung? – mit Tom ahnte.
Zum Glück war Luft rein, und Anne gelangte unbehelligt zurück ins Erdgeschoss, um sich auf der Lehrertoilette frisch zu machen.
Während Anne zwecks einer äußerlichen Beseitigung der Spuren ihrer eben vollzogenen Begegnung mit Tom über der Kloschüssel hockte, gab sie sich redliche Mühe, auch innerlich mit sich ins Reine zu kommen.
Es war klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, und wie auch immer Tom sich entscheiden würde, zumindest gab es für sie und Markus keine gemeinsame Zukunft mehr, so viel stand fest. Ja, da war schon eine Spur von Scham, aber Anne musste feststellen, dass sie nicht in der Lage war, so etwas wie ein richtig schlechtes Gewissen zu empfinden. Sie war sich nicht sicher, ob das falsch war – denn hatte sie nicht auch das Recht auf eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse? War das nicht ganz normal?
Es war nicht so, dass sie gar keine Gefühle mehr für Markus hatte. Er war sensibel, einfühlsam, witzig – kein Mann hatte sie jemals so zum Lachen bringen können wie er. Er sah auch gar nicht mal schlecht aus, wenn ihm auch in letzter Zeit einige Haare ausgegangen waren und er richtige Geheimratsecken bekommen hatte. Eigentlich fand sie das aber durchaus ganz sexy, wenn sie genau überlegte. Und es war ja auch kein Zufall gewesen, dass sie sich damals in ihn verliebt hatte, vor acht Jahren, als er sie einfach so an der Bushaltestelle vor der Uni angesprochen und so hartnäckig nachgebohrt hatte, bis sie ihm ihre Telefonnummer gab. Immerhin war er zu dieser Zeit eine wirklich vielversprechende Partie gewesen, studierte wie sie selbst auf Lehramt, Deutsch und Philosophie, schrieb sogar an einem Buch. Sie hatte das aufregend gefunden, weil er so ganz andere Interessen und Kenntnisse hatte als sie. Oft konnte sie nur staunen, wenn er ihr Dinge erklärte, über die sie sich noch niemals Gedanken gemacht hatte – etwa wenn sie gemeinsam einen Film schauten oder eine Talkshow. Markus konnte mit ein, zwei Sätzen, mit einem einzigen gedanklichen Winkelzug die Argumentation eines schwafelnden Politikers oder den Konstruktionsfehler im Plot einer Filmhandlung wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen lassen und hatte ihren Horizont um einiges erweitert.
Gleichzeitig war es aber ärgerlich, dass er so wenig aus seinen Fähigkeiten machte. Als sie sich kennenlernten, hatte er noch nicht einmal seinen Bachelor, während sie, obwohl sogar ein Jahr jünger, schon an ihrer Masterarbeit schrieb. In den ersten Jahren hatte sie sich jedoch nicht weiter daran gestört; sie vertraute darauf, dass er irgendwann von selbst in die richtige Spur finden würde, und mit Druck von außen war bei ihm wenig zu erreichen, dafür war er zu individualistisch. Aber in letzter Zeit machte sie sich wirklich Sorgen.
Obwohl er vorgab, an seiner Masterarbeit zu schreiben, wusste sie genau, dass er stattdessen stundenlang im Internet surfte und sich auf irgendwelchen Zocker-Websites herumtrieb. Immerhin hatte er einen Job in einem Elektronikmarkt, sodass sie ihn nicht auch noch durchfüttern musste, aber war das etwa eine Perspektive für einen Mann mit diesem Potential?
Dazu kam noch erschwerend, dass er seit geraumer Zeit kaum noch Interesse an sexuellen Aktivitäten zeigte, und das war eine Sache, die ihr wirklich zu schaffen machte, denn eigentlich sahen ihre Planungen vor, irgendwann eine Familie zu gründen und zu heiraten.
Wie aber sollte das funktionieren, wenn er dafür nicht einmal das Mindeste unternahm? Vielleicht hätte sie sich ja sogar darauf eingelassen, als Familienernährerin für das Finanzielle zu sorgen und ihm die Rolle des modernen Hausmannes zu überlassen, der nebenher ein bisschen schrieb, während die Kinder in der Kita waren. Sie hatte ihm dieses Modell sogar mehrfach vorgeschlagen, aber er hatte stets nur „Hhhmm“ und „Oooch, na ja“ geantwortet und vorgegeben, erst seine Masterarbeit beenden zu wollen, damit er erst mal „was in der Tasche“ hatte. Irgendwie war ihm sein Leben entglitten, und sie wusste nicht, wie sie ihn erreichen konnte, um ihn wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
Und welche Frau hätte angesichts dieser Lage ernsthafte Versuche unternommen, den Avancen eines Tom Schrage zu widerstehen? Von Anfang an, seit sie vor zwei Jahren an der neuen Schule angefangen hatte, war er scharf auf sie gewesen, das war unverkennbar. Zunächst hatte sie sich aber nicht viel dabei gedacht, denn Tom war der Typ Mann, dem alle Frauen zu Füßen lagen und der sich seiner Wirkung vollauf bewusst war. Er schien keinerlei Ambitionen in Richtung einer dauerhaften, monogamen Beziehung zu hegen.
Die Kollegiums-Weihnachtsfeier letztes Jahr hatte aber zu einem grundlegenden Wandel ihrer Ansichten diesbezüglich geführt, als sie nach einer beträchtlichen Menge Prosecco – sie war nicht sonderlich trinkfest und machte sich eigentlich nichts aus Alkohol, ganz anders als Markus, der gern über Hanglagen und Oechslegrade seiner Rotweine referierte – mit Tom im Kartenraum des Geographie-Fachbereiches gelandet war.
Zuerst hatte sie diese Begegnung als singuläres Ereignis betrachtet, an dessen Wiederholung sie kein Interesse hatte, schließlich plante sie ihre Zukunft trotz aller Schwierigkeiten mit Markus. Letztlich hatte Tom sie aber dermaßen beharrlich umworben, ihr Komplimente gemacht und hin und wieder ihre Lieblingsschokolade in ihr Fach im Lehrerzimmer gelegt oder ihr heimlich Kassiber mit kleinen Botschaften in ihre Tasche geschummelt, dass sie auf der Kollegiumsfahrt nach Prag Anfang des Jahres dann doch wieder mit ihm im Bett gelandet war. Tom war wirklich ein beachtlicher Liebhaber, zwar bei Weitem nicht so intellektuell wie Markus – da bestätigte er so ziemlich alles, was man sich schon im Studium über Leute, die die Kombination Sport und Erdkunde wählten, erzählt hatte.
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