Die Wangen ihrer Mutter glühten, vermutlich vom hohen Blutdruck. Kriemhild seufzte und setzte sich an den Tisch.
„Ma, bitte …“
„ Nein! Ich bin noch nicht fertig, Kriemhild. Glaubst du allen Ernstes, man spaziert einfach so von einem Land in ein anderes? Hat Grete dir nichts davon gesagt, wie schwer es ist, auszuwandern? Alles hinter sich zu lassen und von Grund auf neu anzufangen? Sicher, du bist jung. Aber das hier ist deine Heimat. Vielleicht geht es in den ersten Jahren gut. Vielleicht würde es noch besser laufen, wenn du jemanden geheiratet hättest, den du kennen würdest. Ich meine, was kann man schon über einen Menschen in Erfahrung bringen in drei Monaten ? Das ist nur eine Momentaufnahme, Kriemhild, weiter nichts!“
„Ich habe genug gehört, okay? Ich weiß sehr wohl was Samuel ist und wie er ist, Ma. Ob du dir das vorstellen kannst, oder nicht. Und woher du diesen Umschlag hast, kann ich mir auch denken. Ich hatte meine Gründe, den letzten Koffer nicht zu öffnen. Hättest du etwas abgewartet, dann hätte ich dir alles erklärt. Und wenn du jetzt fertig bist mit deiner Rede, dann würde ich es sehr gern dabei belassen, denn ändern kannst du ohnehin nichts an der Tatsache, dass ich ihn liebe und dass ich seine Frau bin.“
Sie schwiegen. Ma war wohl zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Kriemhild hatte Tränen in den Augen; sie wollte sich nicht mit ihrer Mutter streiten. Langsam ging sie zu ihr hinüber und hockte sich vor sie hin.
„Hey, ich liebe dich doch, Mama“, flüsterte sie. „Und falls du Angst hast, dass ich dich verlassen könnte, so ist es nicht! Wir finden eine Lösung, versprochen. Ich will dich nicht alleinlassen.“eimanHei
Ihre Mutter winkte ab. „Darum geht es mir nicht, Kind. Das wäre nur der übliche Lauf des Lebens. Oder glaubst du, du kannst ewig an meinem Rock hängen?“ Sie nahm Kriemhilds Hände in ihre und schaute zu ihr hinab. „Ich mache mir große Sorgen um dich, Liebes. Ich kenne diesen Samuel nicht mal und du … du hast ihn einfach geheiratet und mir damit die Chance genommen, dir zu ihm zu gratulieren oder dich vor ihm zu warnen. Wer weiß das schon? Es geschehen so schreckliche Dinge in dieser Welt. Wie soll ich wissen, ob ich ihm trauen kann? Du bist mein einziges Kind und ich fühle mich seit Richards Tod doppelt verantwortlich für dich.“
„Das verstehe ich, Ma. Aber hast du mich nicht alles gelehrt, was dich selbst ausmacht? Deine Kriterien sind meine Kriterien, deine Zweifel sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. Du solltest mir vertrauen und wissen, dass ich nicht irgendeinen dahergelaufenen Typen heiraten würde. Du wirst die Chance bekommen, Sam kennenzulernen, und dann wirst du beruhigt sein, glaub mir. Ma, er geht nächste Woche nach Harvard. Seine Eltern sind weltbekannt auf ihrem Gebiet. Außerdem kennen die Gilberts ihn. Ruf Tante Margret an und sie wird dir sagen, wie begeistert sie von Samuel sind.“
„Oh, das werde ich, keine Sorge“, sagte sie und zog erneut ihr Taschentuch hervor. „Und ich werde ganz sicher nicht bis Weihnachten abwarten, um ihn kennenzulernen. Du hast doch sicher eine Greencard beantragt? Ich weiß zwar nicht, wie lange sowas dauert, aber sobald sie genehmigt ist, möchte ich mit dir nach Falmouth fliegen. Es ist an der Zeit, ein Hühnchen mit meiner Schwester zu rupfen.“ Kriemhild umarmte sie und ihre Tränen rollten in den Schoß ihrer Mutter.
„Danke, Ma! Ich verspreche dir, du wirst ihn lieben.“
„Und was wird aus deinem Studium in Hamburg?“
„Ich bleibe so lange wie möglich bei dir“, schluchzte Kriemhild. „Vielleicht suche ich mir in der Zwischenzeit einen Job.“
Samuel
Er saß auf seinem Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und hielt das kleine Säckchen aus Muschelseide in Händen. Die Perlen knirschten leise und während er sie hin und her drehte, hüllten sie seine Finger in bläulichen Glanz.
Sam war noch nicht wirklich zurück. Er hing den vergangenen Stunden nach, in denen er bei Kriemhild gewesen war. Ihre Nähe hatte ihm Kraft gegeben, die kommenden Tage, Wochen und Monate ohne sie durchzustehen. Erneut überkamen ihn Zweifel, was seine Zukunft anging. Er sah noch immer keinen Sinn in dem Studium, in den Forschungen, deren Ergebnisse und Ziele die Menschen ohnehin nicht interessierten; jenes Volk war und blieb eines voller Theoretiker. Es würde vermutlich ein ganzes Dutzend an aufeinanderfolgenden Naturkatastrophen benötigen, ehe sie aufwachen würden – und dann wäre es bereits zu spät zum Handeln.
Sam fuhr sich durch die Haare. Wenn es nur das gewesen wäre. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, was ihm Sorgen bereitete: ein stetig wachsender Zwiespalt in seiner Brust. In letzter Zeit brannte sich das Flüstern der See immer tiefer in sein Herz hinein, in all seine Sinne. Es wurde so unerträglich, dass er Mühe hatte, dem kribbelnden Verlangen zu widerstehen. Wann immer er das Meer auch nur betrachtete – oder daran dachte – verzehrte ihn die Begierde, hinabzutauchen und sich einzufügen in das Element, für das er geschaffen war. Es schnürte ihm die Luft ab; jede Lebensader.
In Kriemhilds Nähe war es erträglich. Sie gab ihm nicht nur die Kraft, es auszuhalten, sondern sie gab seinem Dasein an Land auch einen Sinn, für den er bereit war, das Opfer zu bringen.
Doch nun – ohne sie … Mit jeder Sekunde ihrer Abwesenheit nahm das verlockende Säuseln in ihm zu. Der Ozean war eifersüchtig, er duldete niemanden jener Rasse an seiner Seite. Eine plötzliche Schwäche überkam ihn und drückte tonnenschwer auf sein Gemüt hinab. Im nächsten Moment blickte er auf und entdeckte seine Mom am Ende des Bettes stehen. Er hatte sie gar nicht bemerkt. Sam erschrak.
„Mom? Wie lange stehst du da schon?“
„Lang genug, um deinen Schmerz nicht zu überhören.“ Sie setzte sich an seine Seite und lächelte mitleidig. „Noellan, mein dummer Junge. Amy war nicht der einzige Grund, wieso du die Früchte ernten wolltest, habe ich recht?“ Sie deutete auf das Säckchen in seinen Händen und bemühte sich, es nicht zu berühren, um die Perlen nicht zu verunreinigen. „Warst du bei ihr? Bei Kriemhild?“
Er nickte stumm.
„Du weißt schon, dass du mit diesen Perlen vorsichtig sein musst, Sam? Sie können eine Abhängigkeit auslösen und du wärest nicht der Erste, der in eine Welt der Illusion abdriftet.“
„Das weiß ich, Mom. Sag mir, hast du eine bessere Idee?“
„Ach, komm schon. Kriemhild ist nicht mal eine Woche fort. Ihr werdet es schon überleben, schließlich haben andere Menschen auch nicht das Privileg eines mentalen Dates.“
„Das ist es nicht“, sagte er und seine Stimme klang geschwächt. Mom schaute besorgt.
„Was ist es dann?“
Er schwieg.
„Sam?“
„Hast du jemals dieses Gefühl verspürt, wahnsinnig zu werden, wenn du … wenn du nicht dort unten bist?“
„ Was ?“ Sie hob seinen Kopf an und schaute ihm in die Augen. „Seit wann hast du dieses Gefühl?“
„Kann ich nicht genau sagen. Es ist ganz schleichend gekommen. Manchmal glaube ich, dass es seit Amys Hochzeit viel schlimmer geworden ist.“
„Amys Hochzeit“, wiederholte sie leise. „Die Flosse.“
„Die Flosse? Ich verstehe nicht ganz.“
„Ja, Sam, ich denke, sie ist schuld daran“, sagte Mom und in ihrem Blick lag tiefe Sorge. „Vermutlich war die Flosse der Auslöser für dein Problem.“
„Dann spürst du es also auch?“
„Nein, tue ich nicht. Nicht mehr , um genau zu sein. Erinnerst du dich noch an die Zeit, Sam, als Dad damals in Deutschland gearbeitet hat?“ „In Hamburg? Ja, flüchtig. Es war ein paar Jahre nachdem wir den Ozean verlassen hatten, richtig?“
„Richtig. Der Grund, wieso ich damals nicht mit ihm gegangen und stattdessen landeinwärts geflüchtet bin – ich hatte mich für dieses Solarprojekt in Colorado beworben und allen erzählt, dass ich damit meinen Horizont erweitern wolle – es entsprach nicht der Wahrheit.“
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