„Scht.“
Sie erschrak. Es war nicht die Stimme ihrer Mutter. Kriemhild riss die Augen auf und drehte sich um. „ Sam ?“
Er stand dort in der Dunkelheit, direkt an ihrer Seite, und lächelte. Das war unmöglich! Sie hätte schwören können, dass sie hellwach war. Aber anscheinend schlief sie tief und fest.
„Hey“, flüsterte er. „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“
„Du hast mich nicht erschreckt … Doch, hast du! Ich dachte, du wärest meine Mutter.“
Er kam näher, zog sie in seine Arme und streichelte über ihren Kopf. Eine Gänsehaut überkam sie, ein warmes Kribbeln durchströmte ihre Glieder. Seine Berührungen waren so warm und so echt, dafür, dass sie eigentlich gar nicht real waren. Natürlich – es war Neumond. Wie hatte sie das vergessen können? Sie schmiegte sich noch enger an ihn.
„Nur ein Traum“, flüsterte sie. „Du bist nichts weiter als ein banaler Traum. Ich will, dass du wirklich hier bist.“
„Ich bin wirklich hier. Für den Moment jedenfalls.“
Sie legte ihren Kopf an seine Brust und atmete seinen Geruch ein, um sicherzugehen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Er roch nach Salz und nach dem Meer. Von seiner Haut ging eine schwache Elektrizität aus, seine tiefblauen Augen fluoreszierten in der Dunkelheit. Hatten sie das zuvor schon mal getan, oder war es ihr bislang nie aufgefallen?
„Du bist tatsächlich hier“, flüsterte sie. „Wie lange kannst du bleiben?“
„Mach dir darüber keine Sorgen. Ich bleibe hier, solange du mich brauchst.“
„Gut, dann werde ich dich nicht mehr gehen lassen. Sam, ich vermisse dich. Ich will nicht ohne dich sein! Der Tag heute war schrecklich. Der Tag und die Vorstellung, wie es sein wird, wenn du wieder zurück in den Ozean musst. Ständig sehe ich mich in einem Boot sitzen, die Oberfläche nach dir absuchend, während alle Menschen mich bemitleiden, weil sie denken, du wärest tot …“
Er schwieg, dann hob er ihr Kinn an und küsste sie. Kriemhild wollte weiterreden, doch er nahm ihr einfach den Atem. Mit seinem Kuss machte er die schmerzhaften Tage der Trennung ungeschehen. Er machte ihre Abreise ungeschehen, ihre Einsamkeit und selbst den Streit mit ihrer Ma. Eine Träne rann über ihre Wange. Sie wünschte, er würde sie nicht bemerken.
„Kriemhild, du sollst nicht weinen. Ebenso wenig, wie du dir über solche Dinge den Kopf zerbrechen sollst.“ Er wischte sanft mit dem Daumen über ihre Wange. „Es ist wegen deiner Mutter, hab ich recht? Du hast es ihr gesagt.“
„Ja, und sie war schockiert.“
„Es war gut, dass du es ihr gesagt hast.“
„Nein, war es nicht! Am liebsten würde ich alles rückgängig machen und es ihr auf ganz andere, vielleicht auf schonendere Art und Weise beibringen. Kannst du es nicht aus ihrem Kopf löschen und ich versuche es morgen nochmal?“
„Kriemhild!“ Er lachte. „Ich habe dir schon mal gesagt, dass das kein Spiel ist. Egal, wie du es auch verpacken würdest, ich denke, sie wäre immer schockiert. Und das ist auch gut so, denn nur so kann sie es verarbeiten und irgendwann akzeptieren.“
„Und was, wenn sie das nicht tut?“
„Ihr bleibt keine Wahl, genauso wie Tom. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden. Und jetzt lass uns bitte über etwas anderes reden. Ich muss mich erst mal umschauen. Hier wohnst du also? Nett.“
„ Nett ? Was soll das heißen? Wieso hast du mich nicht nach Falmouth geholt? An die Lagune oder an irgendeinen anderen Strand? Ich will nicht in diesem langweiligen Zimmer rumstehen.“
Er lächelte und Kriemhild bekam ganz weiche Knie. „Ich habe dich nicht nach Falmouth geholt, weil ich es dir nicht noch schwerer machen wollte, indem ich mit diesen Orten deine Erinnerungen wecke.“
„Du hättest sie nicht geweckt, Sam, denn sie sind nie eingeschlafen. So wie alles, was ich mit dir erlebt habe. Wie geht es Amy? Habt ihr etwas Neues herausgefunden?“
Ein Schatten legte sich auf seine Züge. „Nein, leider noch nicht. Aber meine Mom und ich arbeiten daran. Übrigens soll dich von Margret grüßen. Ich war heute bei ihr, nachdem Jacob bei uns aufgetaucht ist und nach dir gesucht hat. Der Arme; er versteht nicht, wieso du fort bist.“
Der Gedanke an den wunderbaren Hund ließ Kriemhilds Herz erweichen.
„Oh, mein lieber Jake! Er fehlt mir auch!“
„Aber bestimmt nicht so sehr, wie du mir fehlst“, sagte Sam, bevor er sie erneut küsste.
Sein Herzschlag klang wie die Brandung des Ozeans und seine Lippen waren so salzig wie die See. Kriemhild hatte längst vergessen, dass er nichts weiter als eine Illusion war; hervorgerufen durch die Früchte der blauen Mondmuschel. Doch keine Illusion der Welt war realer als jene.
Am nächsten Morgen erwachte sie gegen neun und stellte schmerzhaft fest, dass sie allein war. Aber was hatte sie anderes erwartet? Kriemhild schloss die Augen und spürte Samuels wärmenden Schatten, der sie noch immer umgab. Er versicherte ihr, dass er tatsächlich dagewesen war. Sie legte ihre Hand auf die Stelle des Bettes, an der er zuvor gelegen hatte und hing dem scheinbar endlosen Traum nach. Sie spürte jeden einzelnen Kuss auf ihrer Haut, der ihren Schmerz über seine Abwesenheit gelindert hatte.
Und plötzlich riss das Gespräch sie aus den Erinnerungen – das Gespräch, das sie am Vortag mit ihrer Ma geführt hatte. Kriemhild öffnete die Augen und setzte sich seufzend auf. Sie band sich die zottligen Haare zurück und wusste, dass sie an der Fortsetzung nicht vorbeikommen würde. Ma war längst nicht fertig, das ahnte sie. Kriemhild lief in die Küche hinunter, wo sie die Kaffeemaschine anstellte. Vielleicht konnte sie ihre Mutter ja irgendwie besänftigen.
„Guten Morgen“, tönte es vom Tisch herüber und sie fuhr zusammen. Diesmal war es wirklich Ma gewesen, die völlig lautlos hereingekommen war. Kriemhild wartete zu recht auf ein Gewitter.
„Hey, Mama … Hast du gut geschlafen?“
„Die Frage erübrigt sich wohl. Ich möchte mit dir reden.“ Die dunklen Augen ließen Kriemhild keine Sekunde lang unbeobachtet.
Sie nickte scheu und bemühte sich, die vergangene Nacht mit Sam für den Moment beiseite zu schieben.
„Weißt du, Kriemhild, das mit dieser Hochzeit …“
„Ja, du hast recht. Ich hätte …“
„Lass mich bitte ausreden“, fuhr Ma dazwischen. „Das gestern war ein großer Schock für mich – ist es noch immer! Ich habe kaum geschlafen. Um ehrlich zu sein, habe ich die ganze Nacht vor Sorge kein Auge zugetan.“
„Das … das tut mir leid, Ma.“
Die Miene ihrer Mutter verfinsterte sich. „Ich verstehe das einfach nicht. Wie kann man denn so mir nichts dir nichts einen wildfremden Menschen heiraten? Ich möchte, dass du mir das erklärst, und ich will wissen, was du dir bei der Sache gedacht hast! Du, und vor allem … Grete ! Dass sie erst Vater und jetzt auch noch mir in den Rücken gefallen ist … Aber was sollte ich auch anderes von ihr erwarten?“ „Nein, Ma!“, rief Kriemhild energisch. „Margret und John haben nichts mit der Sache zu tun. Das habe ich dir gestern schon gesagt! Lass die beiden da raus, sie haben genauso reagiert wie du gerade. Es war allein meine Entscheidung – und die von Sam.“ „ Hör auf damit !“ Ma schlug wütend auf den Tisch. „Was hast du dir nur dabei gedacht? Du bist wie ein bockiges, kleines Kind! Man heiratet nicht aus irgendeiner Laune heraus! Weißt du überhaupt, was das für ein Schritt ist? Er sollte gut überlegt sein und zwar gründlicher als bloß ein paar Tage oder Wochen. Und wie soll es nun weitergehen? Habt ihr euch darüber auch Gedanken gemacht? Zieht dein Mann etwa hierher? Oder hast du vor, in die Staaten zu gehen?“ Ma zog einen weißen Umschlag hervor, donnerte ihn auf den Tisch und tupfte sich mit ihrem Taschentuch durch die Augen. „Ich nehme mal an, Letzteres? Denn das würde jedenfalls erklären, wieso du diese Unterlagen für ein Auslandsstudium besorgt hast.“
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