Er zog sich einen Stuhl heran und nahm kopfschüttelnd Platz.
„Gar nichts – Olamanassa war nicht da. Er ist zurückgereist, in den Pazifik.“
„Was? Wieso …?“
„Ich habe keine Ahnung, Mom. Er weiß, was los ist, mehr als jeder von uns. Und trotzdem verschwindet er einfach so. Ich verstehe das nicht. Stattdessen hat er seinen Wachhund auf mich angesetzt; dieser Sebulan hat mich abgefangen und mir die weisen Worte des Alten übermittelt.“
„Weise Worte?“
„Ach, nichts, worauf wir nicht selbst gekommen wären.“ Er schaute sie an und ließ sie an der Sorge in seinem Blick teilhaben. „Richtig, Mom, es gibt Anlass zur Sorge. Ich habe Mehalon besucht.“
„Etwas Neues von Amy?“
„Allerdings.“ Er hasste es, schlechte Nachrichten zu überbringen. „Offenbar haben Malahan und sie die Gewässer verlassen. Niemand weiß, wo genau sie sich aufhalten. Die Situation scheint ernster zu sein als befürchtet.“
Mom erbleichte. Aus ihren Gedanken las er, welche Schritte sie plante, was sie in Erwägung ziehen wollte, um ihre Tochter ausfindig zu machen. Dann schaute sie instinktiv aus dem Fenster und in den Himmel hinauf. Trotz des strahlenden Morgenwetters erahnte sie die Umrisse des Mondes, dessen schmale Sichel sich längst in einen Schatten verwandelt hatte. Sie fasste einen Entschluss. Ohne zu zögern stieß sie sich von der Anrichte ab, um hinaus zu den Klippen zu laufen. Sam sprang auf und hielt sie zurück. „Warte, Mom.“
„Worauf soll ich denn warten? Es ist Neumond, Samuel, oder hast du eine bessere Idee? Amy ist meine Tochter und ich muss wissen, wo sie sich aufhält und wie es ihr geht.“
„Du hast recht“, sagte er. „Aber wenn du einverstanden bist, dann würde ich gern dort hinunter tauchen. Ich werde genügend für dich mitbringen, ist das okay?“
Sie zögerte einen Moment lang, dann nickte sie. „Ja, vielleicht ist es besser, wenn du sie erntest. Dann bin ich nicht allein mit Amy, für den Fall, dass …“
„Dieser Fall wird nicht eintreten, hörst du? Aber ich möchte trotzdem gern dabei sein, wenn du sie triffst.“
„Sei bitte vorsichtig! Wenn die Situation dort wirklich so schlimm ist, dann …“
Sie wandte sich ab und verstummte. Sam nahm sie in die Arme.
„Alles wird gut, Mom. Keine Sorge.“
Ein leises Kratzen an der Glastür ließ ihn aufschauen. Sam schmunzelte unwillkürlich. Seine Mom blickte hoch, als eine feuchte Nase gegen das Fenster stupste.
„Hey, ist das nicht der Hund der Gilberts? Hat er sich etwa verlaufen?“, fragte sie.
Sam ging hinüber, öffnete die Tür und hockte sich vor den Labrador, um ihm durch das seidige Fell zu streicheln.
„Hallo, Jacob. Du bist wohl auf der Suche nach Kriemhild, hab ich recht? Tut mir leid, aber bei mir ist sie auch nicht.“
Mom kam hinzu und kraulte Jakes Ohren. „Diese Hunde erstaunen mich immer wieder aufs Neue. Sie sind den Menschen wirklich treue Freunde, beinahe wie unsere Tümmler.“
„Ja, das sind sie. Jacob liebt Kriemhild. Er vermisst sie. Keine Sorge, mein Junge, du wirst sie schon noch wiedersehen. Mom, ich werd’ ihn zu den Gilberts zurückbringen, bevor sie ihn suchen. Zudem sollte ich mich dort auch mal wieder blicken lassen. Also, bis später dann.“
„Einverstanden. Richte Margret einen Gruß von mir aus.“
Er lief mit dem Hund über den Strand, während Jacob durch die Dünen stöberte und immer wieder dösende Vögel aufscheuchte. Sam erinnerte sich an die vergangenen Wochen zurück, in denen er den gleichen Weg so oft mit Kriemhild genommen hatte. Er verspürte nicht den leisesten Drang, jenen Ort gegen Harvard einzutauschen. In Falmouth lagen die Erinnerungen, denen er nachhängen wollte – nicht in Boston. Doch ihm blieb keine Wahl, wenn er seinem Dad noch länger aus dem Weg gehen wollte. Es sei denn, er würde sich in einen der Flieger setzen und einfach zu Kriemhild verschwinden.
Er lachte selbstverachtend. Netter Gedanke. Nein ! Niemals würde er in die Dinger steigen. Er gehörte ins Wasser und nicht in die Luft. Es gab schließlich eine verlockende Alternative, einen Ozean zu überqueren …
„Jacob! Wo hast du nur wieder gesteckt? Ab in deinen Korb, aber plötzlich!“
Sam schaute auf und entdeckte die liebenswürdige alte Dame, die mit einem Küchentuch nach dem Hund schlug. Er rief in ihre Richtung: „Tu das nicht, Margret! Er wollte dir eben beichten, wo er gesteckt hat.“
Sie sah herüber und ein Lächeln hüllte ihre Züge in jugendliches Strahlen.
„Samuel! Was für eine Überraschung! Wir haben dich schon vermisst! Komm doch herein.“
Er lief über die Veranda, als Margret ihn in ihre Arme zog.
„Oh, ich wünschte, Kriemhild wäre hier!“, rief sie und wischte sich eine heimliche Träne fort. „Wie geht es dir, Junge? Hältst du dich auch tapfer während ihrer Abwesenheit?“
„Was soll ich sagen, Margret? Mir bleibt keine Wahl. Und wie geht es euch? Übrigens, viele Grüße von Lynn.“
„Danke, danke, uns geht es gut. John ist mal wieder bei der Kirche … Der Rasen, du weißt schon. Möchtest du einen Tee trinken? Wo sagtest du, hast du Jake aufgegabelt?“
Der Labrador lag winselnd in seinem Korb. Sam zwinkerte ihm zu.
„Oh, er kam zu uns gelaufen und kratzte an der Küchentür. Vermutlich war er auf der Suche nach Kriemhild und dachte, sie sei bei mir.“
„Nein! Tatsächlich? Dann habe ich ihm Unrecht getan. Aber nächstes Mal sagst du mir Bescheid, Jacob, bevor du wieder wegläufst, verstanden? Ich habe dir doch schon gesagt, dass Kriemhild zurück bei ihrer Mutter ist.“ Margret drückte Sam auf einen Stuhl hinab und setzte einen Tee auf. „Was gibt es Neues bei euch, Junge? Weiß dein Vater mittlerweile Bescheid?“
„Ja – allerdings haben wir den günstigsten Zeitpunkt unfreiwillig verpasst.“
„Was willst du damit sagen?“
„Brooke. Sie hat ihn am Sonntag getroffen und sich verplappert. Du kannst dir leider nicht vorstellen, wie es dann bei uns daheim weitergegangen ist …“
Margrets Mimik wechselte viele Male. Schließlich verkniff sie sich ein Prusten.
„Entschuldige, Sam. Ich lache nicht über dich. Dein Dad muss unglaublich wütend gewesen sein, das tut mir leid. Aber diese Quasselstrippe von einer Delaware! Das sieht ihr mal wieder ähnlich. Ich hoffe, die Wogen sind mittlerweile einigermaßen geglättet.“
„Naja, das Wort einigermaßen trifft es nicht ganz. Aber Tom arbeitet daran.“
Sebulan
Er hatte einen Entschluss gefasst, den er sich selbst nicht erklären konnte. Doch weil der alte Mariane ihm keine weiteren Befehle erteilt hatte, und ihn auch nicht durch eine Vision oder anhand eines Perlenrausches hatte wissen lassen, was er zu tun hatte, teilte Sebulan sich selbst eine Aufgabe zu. Auf irgendeine Weise fühlte er sich mit der Phenorenfamilie dort oben verbunden. Vielleicht, weil es im Ozean kaum noch jemanden gab, der ihnen vertraute, und andersherum. Oder, weil er sich selbst in ihnen wiederfand; auch Sebulan war weder Mensch noch Meereswesen. Er kannte den Zwiespalt, in dem sie lebten, nur allzu gut. Sebulan fühlte sich von ihnen angezogen und verspürte einen inneren Drang, ihnen zu helfen. Das war vermutlich der Grund, wieso er beschlossen hatte, Cassina und Malahan zu beschatten und ihnen nachzureisen – was die Rebellen zweifellos auch tun würden.
So schwamm er ostwärts und suchte nach den schwachen Mustern, die ihm aus weiter Ferne die Richtung wiesen. Es würde vermutlich Tage dauern, bis er sie eingeholt oder ihre genaue Position ausgemacht hätte. Doch Sebulan war dazu bereit, solange Olamanassa seine Dienste nicht beanspruchte. Er war sich sicher, dass er den beiden auf irgendeine Weise behilflich sein konnte.
Mit jedem Flossenschlag in die richtige Richtung verspürte er ein Kribbeln in seiner Brust. Er hatte keine Ahnung, ob es eine Art Bestätigung seines Tuns war, oder die Ungewissheit, die ihn dazu antrieb.
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