Julia Kristeva, 1941 in Bulgarien geboren, emigrierte 1965 nach Paris und traf dort auf die strukturalistische Gruppe Tel Quel , deren theoretischer Kopf sie wurde.
Ihr erstes Buch, „La révolution du langage poétique“, eine Untersuchung der Symbolstrukturen, machte sie über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt. Ab 1974 hatte sie einen Lehrstuhl an der Universität Paris VII ( Université Paris Diderot ) inne.
1979 begann sie eine zweite Karriere als Psychoanalytikerin in der Tradition der Lacan-Schule. „Das weibliche Genie – Hannah Arendt“ ist Band 1 der Trilogie „Das weibliche Genie. Das Leben, der Wahn, die Wörter“ über Hannah Arendt, Melanie Klein und Colette.
Julia Kristeva
I. Hannah Arendt
Aus dem Französischen
von Vincent von Wroblewsky
CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
© 2001 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin Wien
Titel der französischen Originalausgabe: Le génie féminin, tome premier:
Hannah Arendt
© 1999 Librairie Arthème Fayard, Paris
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
eISBN 978-3-86393-566-5
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-108-7
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Das weibliche Genie. Allgemeine Einführung
Das Leben Hannah Arendt oder das Handeln als Geburt und als Fremdheit
I.Das Leben ist eine Erzählung
1.Eine »derart exponierte« Biographie
2.Lieben nach Augustin
3.Der Sinn eines Beispiels: Rahel Varnhagen
4.Arendt und Aristoteles: eine Apologie der Erzählung
5.Das zwanzigste Jahrhundert erzählen
II.Die überflüssige Menschheit
1.Jüdin sein
2.Zwischen den Elementen der Struktur…
…der französische Fall
3.Was ist moderner Antisemitismus?
4.Imperialismus…
…und Totalitarismus
5.Die Banalität des Bösen
6.Glaube und Revolution…
…in der Gesellschaft, dieser Haushälterin
III. Denken, Wollen, Urteilen
1.»Wer« und der Körper
2.Der Dialog des denkenden Ich: »Spaltung«, Melancholie, Tyrannei
3.Vom inneren Menschen zur Gewalt des Lebensprozesses
4.Der Geschmack des Zuschauers: in Richtung einer politischen Philosophie
5.Das Urteilen: zwischen Verzeihen und Versprechen
Anhang
Abbildungen
Auswahlbibliographie der Schriften Hannah Arendts
Register
Für ihre Mitarbeit danke ich Elisabeth Bélorgey-Kalogeropoulos, Frédéric Bensaïd, Raymonde Coudert, Marie-Noëlle Demarre, Helga Finter, Catherine Joubaud und Fabienne Leleux.
Das weibliche Genie
Allgemeine Einführung
Eine der größten Leidenschaften des Genies ist die Liebe zur Wahrheit .
Laplace
»Was für ein Genie!«: Talent, natürliche Begabung, außergewöhnliche Suche nach Wahrheit – in jüngerer Zeit verdrängt der Ehrgeiz der Menschen, sich »Genie« zuzusprechen, die antike Vergöttlichung der Persönlichkeit. Der göttliche Geist 1, von dem angenommen wird, er wache über die Geburt des künftigen Helden, hat sich in eine bemerkenswerte Innovationsfähigkeit verwandelt: »Vor allem diese Erfindung schien eine Gabe der Götter zu sein, dieser ingenium quasi ingenitum , eine Art göttlicher Eingebung.« (Voltaire) Dann kam man durch einfache Metonymie oder Analogie darin überein, »Genie« die Person selbst zu nennen, die »Genie hat« oder ganz einfach Einfluß auf jemanden. 2
Hannah Arendt, eine der Protagonistinnen dieses dreiteiligen Buches, setzt sich unbekümmert über das »Genie« hinweg, das ihrer Meinung nach von den Männern der Renaissance erfunden wurde: Unzufrieden darüber, sich mit den Früchten ihrer – wenn auch immer grandioseren – Tätigkeiten gleichgesetzt zu sehen, und Gott immer mehr verlierend, hätten sie dessen Transzendenz auf die Besten unter ihnen verlegt. Als Trost bezeichnet das Göttliche seit dieser Epoche, als »Genie« verkleidet, ein Geheimnis, das den Künstler in jemand Unvergleichlichen verwandelt. Soll man darin den Einbruch des Absoluten in uns, eine Herausforderung der Menschheit, den Ruf nach dem Übermenschen sehen? Oder die Weigerung, sich auf die Ebene von »Produkten« oder des »Scheins« in einer »Konsum«- oder »Show«-Gesellschaft herabziehen zu lassen? Wir sehen vielmehr im »Genie« eine therapeutische Erfindung, die uns davor bewahrt, in einer Welt ohne Jenseits an Gleichheit zu sterben.
Von »Genie« sprechen – ohne den »bösen Geist« zu vergessen, der seine ganze Mühe entfaltete, um selbst Descartes irrezuführen –, ist das noch möglich? Heute scheint mir der Begriff des »Genies« paradoxe Abenteuer, einzelne Erfahrungen und erstaunliche Überschreitungen zu bezeichnen, die trotz allem in unserem zunehmend standardisierten Universum auftauchen. Ihre erschütternde, so schwierige, ja unmögliche Erscheinung eröffnet den Sinn der menschlichen Existenz. Rechtfertigt das Genie den Sinn des Lebens? Nein, antworten die Protagonistinnen dieses Buches, denn das Leben rechtfertigt sich in bescheidenerer Weise, wie wir sehen werden. Das Genie legt dennoch nahe, unsere Existenz sei unendlich durch das Ungewöhnliche erneuerbar: Ich, Sie sind ein Versprechen in actu . Außerdem – und das ist wesentlich – ist das Außergewöhnliche, um das es geht, nicht eine ausgezeichnete Leistung, gewissermaßen das Bestehen der Zulassungsprüfung im harten Wettbewerb jener Elitehochschule der Geschichte. Ebenso wie die griechischen Helden der Antike besitzen meine Genies gewiß außergewöhnliche Fähigkeiten, allerdings haben viele von uns ebenfalls etwas von diesen Begabungen. Außerdem irren sie unaufhörlich und offenbaren ihre Grenzen. Dennoch unterscheidet sie, daß sie der öffentlichen Meinung – also uns – ein Werk hinterlassen haben, das in der Biographie ihrer Erfahrung verwurzelt ist. Das Werk des Genies verwirklicht das Aufblühen eines Subjekts.
Jeder hat ein Leben, und viele unter uns haben mehr oder weniger amüsante Abenteuer, die in die Familienchronik oder manchmal auch in die Lokal- oder gar Fernsehnachrichten eingehen; doch reicht dies nicht für eine denkwürdige Biographie. Nennen wir »Genies« jene, die uns zwingen, ihre Geschichte zu erzählen, weil sie von ihren Erfindungen untrennbar ist, von Neuerungen, die teilhaben an der Entwicklung des Denkens und der Menschen, dem Aufblühen von Fragen, von Entdeckungen und Freuden, die sie geschaffen haben. Ihre Leistung betrifft uns in so intimer Weise, daß wir sie nicht aufnehmen können, ohne sie im Leben ihrer Autoren zu verwurzeln.
Die Wirkung bestimmter Werke reduziert sich nicht auf die Summe ihrer Elemente. Sie hängt vom historischen Einschnitt ab, den sie bewirken, von ihren Auswirkungen und ihren Folgen, kurz, von unserer Aufnahme. Jemand befand sich an einem Schnittpunkt und hat dessen Möglichkeiten herauskristallisiert: Das Genie ist dieses Subjekt. Es ist nicht wichtig, daß es nur geboren wurde, arbeitete und starb. Wir statten es mit einer Biographie aus, um zu ermessen, daß diese den Mehrwert, den Luxus, den Einbruch nicht erklärt. Den Genies und nicht jedwedem räumen wir dies ein, um uns bewußt zu machen: Jenseits der Erfindung des Werks oder der Tat existiert jemand, hat jemand gelebt. Sind wir jemand? Sind Sie jemand? Versuchen Sie, jemand zu sein!
Ein Concerto von Mozart, ein komisches Bild von Chaplin oder die Entdeckung des Radiums durch Marie Curie in ihrem Laboratorium: Das sind ebenso ungewöhnliche wie unvermeidliche, ebenso unvorhergesehene wie unverzichtbare Ereignisse. Seitdem »das« stattfand, kann man sich die Welt nicht mehr ohne »das« vorstellen; es ist, als ob »das« schon immer dagewesen sei. Die Erschütterung, die diese Taten und Werke hervorrufen, ist derart, daß wir versucht sind, sie zu rationalisieren, indem wir das Übermenschliche beschwören, oder sie bändigen wollen, indem wir uns die Geburt dieser Individuen als vom Schicksal oder von der Genetik bestimmt vorstellen. Oder wir banalisieren sie, indem wir mit Buffon erklären, »das Genie bestehe in großer Geduld«, oder romantischer, indem wir mit Valéry ausrufen: »Genie! Oh lange Ungeduld!« Doch während wir uns bemühen, sie mit einem Leben auszustatten, auf das sich ihr »Genie« nicht reduziert, spielen die Genies uns einen zusätzlichen Streich: Sie offenbaren uns nicht weniger genialisch, daß ihr ungewöhnlicher Charakter am Schnittpunkt ihrer Ausnahme
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