1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Heilig Abend 43 war fast wie der ein Jahr zuvor. Vater war zwar über Weihnachten bei uns, Franz und Klaus waren bei der Heimatflak. Klaus durfte an den Feiertagen für paar Stunden nach Hause. Franz aus Reigersfeld nicht.
Das Abendessen an Heilig Abend war fast wie ein Jahr zuvor; der Karpfen wunderbar zubereitet, oder von Muttern, wie eh und je zurecht gemacht. Auch die Erbstrohsuppe zur Einleitung des Abendessen schmeckte nach mehr und roch nach noch. Auch gab es braune Butter zum Karpfen. Zum Nachtisch zauberte Mutter diesmal eine Schüssel mit Erdbeerkompott auf den Tisch – lecker! Eifersüchtig wachten wir darüber, dass möglichst alle gleich viele und gleich große Erdbeeren in der Schüssel haben, keiner mehr. Zu Bescherung gab es etwas Gestricktes, Handschuh’/Fäustlinge, lange Strümpfe oder Pudelmützen und eine Tüte mit Pfefferkuchen. Mutter hatte für Anuschka etwas warmes zum Anziehen von ihren Kleidermarken gekauft, worüber sie sehr glücklich war. Das Christkind, dass alles andere herstellte war Tante Magda, die immer bei ihren Touren mit Herrn Doktor ein Strickzeug im Auto hatte und wenn sie nicht mit zu den Patienten gehen musste, sondern im Auto bleiben durfte, strickte sie etwas für ihre zahlreichen Neffen und Nichten – fürs Christkind. Woher sie die Wolle dazu hatte, können wir uns nur denken; sicher war da auch viele getrennte Wolle wieder verarbeitet. Ich habe damals als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter in der Kaufhalle auf der Adolf Hitler Straße, nahe des Bahnhofs für paar Mark eine bunte Brosche gekauft, die ich in unserer Garderobe im kleinen Schuhschränkchen versteckte und zur Bescherung holte. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass beim Herausholen der Brosche einpaar bunte Tonkügelchen sich lösten, was mir sehr sehr peinlich war. Aber Mutter, meinte sie hätte sich trotzdemsehr darüber gefreut und drückte mich an sich. Wir haben dann ein paar Weihnachtslieder gesungen, die Käthe am Klavier, Vater und Janne auf der Geige und ich auf der Flöte begleiteten. Klavier- und Geigenspieler konnten zudem auch noch mitsingen. Der Weihnachtsbaum erstrahlte im Lichte echter Bienenwachskerzen. Vater hatte auch einige Bienenvölker, die draußen am westlichen Stadtrand in der Nähe der Mater Dei Kirche beim schon erwähnten Bauern Kwaschnitza standen und jetzt von Schwester Janne und ein bisschen meiner Mithilfe versorgt wurden, da Vater, der eigentliche Imker, nicht mehr zu Hause war. Besonders während der spätherbst Monate marschierten wir, Janne und ich fast jeden Abend bewaffnet mit einer Milchkanne, gefüllt mit heißem Zuckerwasser zu den Bienen beim Bauern Kwaschnitza, um die Zuckerflaschen mit heißem Zuckerwasser aufzufüllen, das die Bienen aus der Flasche saugten und dann als falschen Honig in den Waben speicherten, um damit den Winter zu überleben. Wie es dann in den Sommermonaten 1944 mit den Bienen weiterging, weiß ich nicht mehr. In den Sommermonaten schwärmen die Bienen; wer fing den Schwarm ein? Auch wer die vollen Waben mit echtem Blütenhonig aus dem Bienenstock holte und den Honig schleuderte, weiß ich auch nicht mehr. Ehrlich gesagt, die Bienen und ich, wir waren nie echte Freunde. Ich hatte immer so das Gefühl, wenn die Bienen nur konnten, haben sie ihren Frust an mir ausgelassen und tüchtig zugestochen.
Am 1. Feiertag gingen wir Kinder in die Herz Jesu Kirche um 8 Uhr zum Kindergottesdienst. Ich konnte Anuschka überreden mitzukommen, was sie auch tat. Sie blieb artig hinten stehen, während wir Kinder in die vordersten Bänke gehen mussten. Die Mädchen saßen in der rechten, die Buben in der linken Reihe. Nach der heiligen Messe wartete Anuschka hinten in der Kirche bis ich, vorne aus der 2. Bank nach hinten kam und wir beide gingen wieder nach Hause. An den kommenden Sonntagen ging sie meistens mit uns Kindern in die Kirche und auch nach Hause. Es war in den Sommerferien1944, Herr von Rudzinski kam bei uns in Ratibor vorbei und teilte mit, dass Anuschka vom kommenden Montag an nicht mehr bei uns sein kann. Sie muss ab Montag in Kuchelna im Hultschiner Ländchen, heute Tschechen, in der Munitionsfabrik arbeiten. Nicht nur unsere Anuschka musste fort, auch all die übrigen Ukrainerinnen aus ihrem Bekanntenkreis mussten mit. Am letzten Samstag bei uns hat Anuschka unter Mithilfe unsrer Mutter noch zwei Bleche Streuselkuchen, belegt mit Obst aus dem Garten, gebacken. Opa schlachtete ein Kaninchen zum Abschiedsessen am morgigen Sonntag, denn am Montag mussten sich alle Ukrainerinnen am Güterbahnhof zum Abtransport nach Kuchelna treffen. Am Sonntag ging Anuschka noch mit uns in die Herz Jesu Kirche zum 8 Uhr Gottesdienst. Zu Mittag saß sie, wie üblich auf ihrem Platz, die unterste Stirnseite am langausgezogenen Tisch im Wohnzimmer. Sie war sehr niedergeschlagen; man merkte richtig wie ihr das Essen nicht so schmeckte wie immer. Wir hatten den Eindruck, je länger sie bei uns war, um so weniger hatte sie Heimweh nach zu Hause. Montag früh, man glaubte fast der Himmel trauert mit uns, und jeden Moment anfängt zu weinen. Schwere dunkle Wolken hingen tief vom Himmel über Ratibor, als sie mit ihrem gepackten Koffer herunterkam. Sie weinte, unserer Mutter standen die Tränen in den Augen und auch uns war’s beim Abschiednehmen ganz weich ums Herz; sie war mittlerweile zu mehr als einem Stück Familie geworden. Besonders schwer fiel ihr der Abschied von unsrer kleinen Schwester Renate. Die Tränen flossen ihr wie kleine Bäche aus den Augen, als sie Renate in den Armen hielt, an sich drückte und stammelte immer wieder die drei Wörter: „Moju malu Cholubetschko.“Ich weiß nicht mehr wer außer Mutter und mir sie zum Güterbahnhof begleitet hat. Von einem Goldfasan in Uniform bekamen wir eine Quittung, dass wir sie abgeliefert haben; gerade so als ob wir ein Stück alten Schrott oder so etwas ähnliches abgeliefert hätten und nicht einen Menschen, der auch ein Herz und eine Seele hat! Die Ukrainerinnen wurden in einen Güterwagen verladen und ab ging der Zug. Mutter und ich gingen dann zum Arbeitsamt, zeigten die Quittung, dass unsere Haushaltshilfe fort sei und wir eventuell einen Ersatz bekommen. Es dauerte nicht lange, vielleicht 2 oder drei Tage. Da klingelte es an der Haustür, eine junge Frau stand an der Tür und nannte sich Marta Jeschke. Sie sagte sie sei vom Arbeitsamt geschickt worden, um bei uns ihren Kriegsdienst im Anschluss an den Arbeitsdienst abzuleisten. Sie sagte weiter, dass sie in Großstrehlitz zu Hause sei. Offensichtlich machte sie einen sehr guten Eindruck auf unsere Mutter. Dann sagte sie: „Sie müsse allerdings heute noch mal heimfahren, denn sie habe weiter nichts dabei als das was sie am Körper trage.“ Mutter zeigte ihr noch das Zimmer unterm Dach; ansonsten alles wie gehabt, Badezimmer und Toilette. Am nächsten Vormittag erschien Marta wie gesagt. Auch Marta war eine Frau, die mit beiden Füßen im Leben stand. Man musste ihr nicht alles mehrmals erklären was wann, wo und wie gemacht werden musste. Es konnte Ende September Anfang Oktober 1944 gewesen sein. Es klingelte an der Haustür und vor der Tür stand Anuschka mit Bäcker Tegels Rosa. „Sie hätten heute einen freien Nachmittag“, sagte Anuschka, „und da wollten wir mal schauen wie’s uns so geht, denn ihr sei immer noch sehr bange, besonders nach ihrem malu Cholubetschko !“ Bei einer Tasse warmen Lindenblütentee und einer Schmorkäseschnitte verging beim Plaudern gar zu schnell die Zeit. Gegen Abend verabschiedeten sich Anuschka und Rosa auf ein baldiges Wiedersehen, aus dem leider ein Nimmerwiedersehen wurde. Nach ihren Weggang sagte jemand, ich glaube es war Käthe: „Anuschka sieht viel schlanker aus, als vorher!“ Und wenn das stimmt, was ich bei späteren Fahrten bei unseren Besuchen in Zabelkau in den 90ziger Jahren und mit Abstechern im Hultschiner Ländchen erfahren konnte, haben die Russen bei ihrem Einmarsch unter Mithilfe der verhassten Tschechen mit den Fremdarbeitern kurzen Prozess gemacht, mit denen, die sie erwischen konnten und das waren so ziemlich alle. Für die Rote Armee waren die Fremdarbeiter Kollaborateure, die statt den Feind zu bekämpfen und als Helden zu sterben – sich erschießen zu lassen, haben sie das Vaterland verraten und mit dem Feind zusammengearbeitet und Munition hergestellt, mit der ihre Landsleute im Kampf gegen den gemeinsamen Feind erschossen wurden. Arme Anuschka, was ist aus dir geworden ?
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