Der Heilige Abend war fast wie immer so wunderbar. Der Weihnachtstisch war gedeckt, doch vier Gedecke blieben leer, das des Vaters und der zwei Brüder und der Anuschka. Zur Einleitung des Festessens gab es wieder die gute Erbstrohsuppe, die Mutter immer wieder wunderbar kochte. Und der Weihnachtskarpfen, der schmeckte wie immer, wenn Muttern ihn zurechtmachte mit viel Wurzelzeug und Gewürzen gekocht, Salzkartoffeln, braune Butter und, dreimal dürft ihr raten, das gute Sauerkraut. Zwei Butterstücke, zusammen 1 Pfund haben wir auf den Lebensmittelkarten für dieses Weihnachtsereignis gespart. Und als Nachtisch gab es Trockenobstkompott. Nach der Bescherung, die wieder aus gestrickter Kleidung und aus Gebirgsjägerähnlichen aber dunkelblauen Schildmützen bestand, die wieder Tante Magda fürs Christkind organisierte Für Mutter habe ich damals ein Bildchen gemalt und ein kleines Weihnachtsgedicht mit meiner bald unleserlichen Handschrift geschrieben. Mutter freute sich trotzdem und ich habe ihr fest versprochen mich zu mühen schöner zu schreiben. Die Weihnachtslieder haben wir diesmal fast ohne musikalische Begleitung gesungen; vielleicht weil drei Musikanten fehlten ! Die Kerzen am Weihnachtsbaum, der diesmal etwas kleiner war, waren heuer nicht echte Bienenwachskerzen, sondern ganz normale Wachskerzen. Wer, wie diese Kerzen organisiert hat weiß ich nicht mehr; ganz bestimmt nicht ich! Am 1. Feiertag kam Bruder Klaus am Nachmittag zum Blümchenkaffee, Mohn- und Magerquarkstreuselkuchen. Mutter hatte irgendwie etwas Rindertalg und Vanillebutteraroma für den Kuchen aufgetrieben, schmeckte große Klasse. Vielleicht hatte es wieder geklappt mit einem kleinen Gläschen vom eigenen Bienenhonig ? Tja, worüber haben wir uns so am 1. Weihnachtstag im Beisein unseres Bruders Klaus unterhalten? Zuerst stand Papa und Franz im Vordergrund. Wo mögen sie bloß sein und wie mag es ihnen jetzt gehen? Dürfen sie mal für kurze Zeit den Krieg vergessen und Weihnachten feiern und wie und wo? Auch über das Essen wurde gesprochen. Bei uns gab es am 1. Feiertag zu Mittag gebratenes Kaninchen, das in einem Weckglas eingekocht war. Es war bestimmt nicht zuviel Fleisch, gerade soviel, wie mit Knochen in ein 11/2 Liter Glas hineinging. Hauptsache viel Soße war da, die die Mutter mit gequirlter Schlickermilch verfeinerte. Uns schmeckte sie wie Sahnensoße und dazu polnische Klöße mit Sauerkraut. Polnische Klöße, was war das schon wieder? Die größere Hälfte der Klößeteigmasse bestand aus geriebenen rohen Kartoffel, aus denen in einem Leinenähnlichen Säckchen das Kartofflewasser herausgedrückt wurde. Die sich im Wasser absetzende Stärke wurde der rohen Kartoffelmasse wieder zugegeben. Die zweite Hälfte, etwa die kleinere Hälfte der rohen Kartoffeln, wurden als Pellkartoffeln gekocht, gepellt, zerrieben. Mit ein zwei Eiern und Salz zusammen vermischt. Aus der Teigmasse wurden dann Bällchenähnliche Kugeln geformt, in Weizenmehl gewälzt und im kochenden Salzwasser gekocht. Uns Kindern schmeckten sie besonders, vielleicht, weil es diese Klöße höchstens zweimal im Jahr gab! Weihnachten ging vorüber und Bruder Klaus ließ uns wissen, dass er Sylvester über Nacht heimkommen darf. Mutter hat für den Sylvesterabend von den Fleischmarken für jeden ein Weißwürstchen gekauft und einen billigen Kartoffelsalat gemacht, gewürzt mit etwas Räucherspeck und aus Blaubeersaft ein falschen Punsch, abgeschmeckt mit den letzten Nelken und Zimt, gemacht. Zum Nachtisch gab es Pfefferkuchen. Irgendjemand von den Geschwistern fragte plötzlich nach Anuschka, was sie wohl jetzt machen würde. So verging der Sylvesterabend. Kurz vor Mitternacht fragte Bruder Klaus: „Wollen wir nicht den Schnee draußen ausnützen und das neue Jahr auf Schiern begrüßen?“ Bruder Georg und ich waren einverstanden. Da die Straßen nicht geräumt waren, konnten wir die Schier direkt vor der Haustür anschnallen und ab ging’s die Neugartenstraße herunter, über die Eichendorfstraße, an der Badeanstalt vorbei zum Gondelteich. Hier am Gondelteich fuhren wir die leichtabschüssigen Wiesen zum zugefrorenen Teich. Für mich war er vielleicht der für viele Jahre schönste Sylvesterabend. So einen Sylvesterabend, dieser Art, habe ich wohl nie wieder erlebt. W a r u m ?
Weihnachtsferien wie jetzt gab es nicht. Schon am 28. Dezember 1944 begann wieder der Unterricht, der abgesehen vom Neujahrstag nur noch 9 oder 10 Tage dauerte. Bruder Georg, der auch das Realgymnasium besuchte, hatte im Gegensatz zu mir vormittags Unterricht. Ich weiß es nicht mehr genau; aber ich glaube, es war der 6. Januar. Bruder Georg ging frühmorgens zum Unterricht und war eine Stunde später wieder zu Hause. Er sagte, die Schule sei geschlossen, die Russen seien auf dem Vormarsch! Peng ! Paar Tage später hörte man das Rollen oder Donnern der Kanonen, das immer näher kam. Vermutlich waren es SS-Soldaten, die die Bevölkerung aufforderte die Stadt in geordnetem Zustand zu verlassen. Was darunter zu verstehen ist „geordneter Zustand“ habe ich bis heute nicht erfahren. Ich hatte jetzt viel Zeit und habe viele Stunden an unserem Harmonium gesessen und aus Vaters Orgelbuch, „Weg zum Himmel“, Kirchenlieder gespielt. Es konnte so um den 10. Januar gewesen sein. Ich saß wieder am Harmonium und spielte Kirchenlieder. Plötzlich gab es ein lautes Krachen, die Fensterscheiben splitterten und ein kalter Luftzug erfüllte das Wohnzimmer. Was war passiert? Russische Doppeldecker mit 2 Mann Besatzung warfen Splitterbomben, dessen Trichter am oberen Rand etwa 1 m Durchmesser hatten, der nach unten spitz zuliefen und einen knappen ½ m tief war. Diese Doppeldecker flogen an manchen Stellen so tief über der Troppauer Straße zwischen den Häusern, dass sie mit ihrem Maschinengewehr in die Fenster schossen. Dieses grausige Schauspiel wiederholte sich in den nächsten Tagen, nur dass die Fenster schon kaputt waren. Eines Tages kam Bruder Klaus auf einen „kleinen Sprung“ nach Hause. Er erzählte so beiläufig, dass seine Flakeinheit von Plania zu den Lukawerken weiter nördlich, aber auch in Ratibor, verlegt wurde. Und bei diesem Werk war ein französisches Gefangenenlager, dass nach Westen ausweichen musste. Die abziehenden Franzosen haben unter anderem auch einen intakten Fußball zurückgelassen, den wir haben können. Wir müssten ihn aber selber holen. Die Lukawerke befanden sich östlich der Straße die nach Markowitz führt an der neuen Oder. Von den ehemaligen Lukawerken sieht man heute nichts mehr. Östlich von der ebenbeschriebenen Heimatflak, in Sichtweite, befanden sich einige Vierlingsgeschütze, die von Luftwaffenhelferinnen bedient wurden. Beide Einheiten sollten nicht nur im Luftkampf eingreifen, sondern auch im Bodenkampf.
Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg zu den Lukawerken, Bruder Georg, auch Kalle gerufen und ich, um den Fußball zu holen. Mutter sah das gar nicht gerne. Als wir da ankamen, hatten die Flakkanoniere gerade die nötigen Handgriffe für ihre kommenden Einsätze immer und immer wieder geübt, wobei laute üble Geräusche aus einem Lautsprecher ertönten. Diese Geräusche sollten die jungen Männer wahrscheinlich an Kampfgetümmel erinnern, um sich im Ernstfall von der Wirklichkeit nicht ablenken zu lassen. Mittags, nach der Vollzugsmeldung, dass alles ordnungsgemäß abgeschlossen sei, durften die jungen Männer zur Mittagspause. Bei dieser Gelegenheit bekamen wir den Fußball, es war tatsächlich ein echter Lederfußball, den wir unser eigen nennen durften. Den Heimweg legten wir fast im Dauerlauf, getrieben von einer unsichtbaren Kraft, zurück. Wir waren kaum über der Schlossbrücke in Richtung Neugarten, erschütterte ein lauter Donnerschlag unsere Umgebung und da wo eben noch die Schlossbrücke stand, befand sich eine riesige Staubwolke. Die Schlossbrücke gab es nicht mehr. Das mit der Sprengung war wohl eine Fehlzündung, denn auf der anderen Oderseite befanden sich nicht nur die eben erwähnten Flakzüge, die jetzt im Erdkampf mit eingreifen sollten, sondern auch einige Militäreinheiten. So verging der Januar. In der letzten Januarwoche wurde es mit dem Kanonendonner wieder etwas lauter. Ganz schlimm war es am letzten Januarsamstag. Ich meine es war der 30.01.45 donnerte es besonders nah. An diesen Samstag Nachmittag kam Bruder Klaus ganz aufgeregt nach Hause. Irgendwie kamen die beiden Flakeinheiten über die Oder. Bruder Klaus bestürmte Mutter, Ratibor sofort zu verlassen, denn in Plania brennen schon die Schornsteine! Mutter ließ sich wirklich dazu überreden, packte jedem sein Ränzlein, hauptsächlich Wäsche zum Wechseln, und ab ging’s in Richtung Ratibor Süd zum Bahnhof.. Der Hauptbahnhof lag schon im Einschussbereich der russischen Artillerie. Opa wollte nicht mit; er wollte das Haus bewachen, damit wenn wir zurückkämen, noch etwas da sei und einer müsse doch die zwei Kaninchen und die Tauben unter der Terrasse versorgen. Er richtete sich in der Waschküche im Keller sein Domizil ein, denn auch oben bei ihm war das Mansardenfenster zerplatzt, in der Waschküche war das Fenster noch bis morgen früh heil. Wir marschierten lautlos durch die Spätnachmittagsdämmerung und sprachen kaum miteinander. Hin und wieder drehte sich einer um und der Umdreher sagte: „Schaut nur wie es dahinten blitzt und donnert!“ Das war kein normales Gewitter, keine Gewitterblitze, dass waren Detonationsblitze und die entsprechende Begleitmusik. Langsam, es war noch immer schneeig glatt, kamen wir am kleinen Bahnhof in Ratibor Süd an. Der diensthabende Eisenbahner, ein Eisenbahner der schon viele Jahre pensioniert war, aber rückdienstverpflichtet wurde sagte uns, dass er nicht wisse ob, wann oder überhaupt noch ein Güterzug vorbeikommt. Er würde uns raten draußen zu warten, denn wenn ein Güterzug vorbei kommt, er bestimmt nicht anhalten wird, wenn keiner draußen steht. Also standen wir draußen am Bahnsteig, warteten und warteten und jeder hing so seinen Gedanken nach. Die Kirchenuhr von der nahen Kirche in Ratibor Süd schlug 12 Uhr Mitternacht. Plötzlich fiel mir etwas wieder ein, was ich sicher nicht geträumt hatte. „Ich ging in der letzten Novemberdekade an einem schulfreien Montag (Montag und Samstag hatten wir immer zu dieser Zeit schulfrei. Warum, habe ich im vorletzten Kapitel beschrieben ), in die Stadt; um was und warum weiß ich heute nicht mehr. Es war ziemlich neblig und so um die 0 Grad. Ich ging diesmal nicht auf der Troppauerstraße sondern auf der Paralellstraße, der Verlängerung der Neugartenstraße zwischen Gondelteich und Badeanstalt. Hinter der Badeanstalt, schräg gegenüber vom Gondelteich war eine größere Wiese, tiefergelegen als die Straße und hinter dieser Wiese auf der rechten Seite standen zwei längliche Häuser mit Giebeldach und einstöckig, kurz vor der Gärtnerei Müller, die sich wiederum gegenüber vom Krankenhaus befand.
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