Kapitel 3: Weihnachten 1944; die Front kommt immer näher
Weihnachten 1944 steht fast unmittelbar bevor. Aber es wollte so keine richtige weihnachtliche Stimmung aufkommen. Ursachen dafür gab es viele. Die Schwester Bärbel ist klein gestorben. Anderthalb Jahre zuvor war es der kleine Bruder Reinhard. Wahrscheinlich hat das was uns laut Lebensmittelkarten zustand nicht mehr gereicht, um junges Leben wachsen zu lassen, denn von Magermilch und Weizenschrot kann man kaum ein Kleinkind großziehen. Obwohl ich jeden Tag frühmorgens in der Kindermilchküche fertig bereitete und abgekochte Kindernahrung abgefüllt in milchähnlichen Flaschen geholt habe. Diese Milchküche war in einem kleinen Schlösschen auf der Eisenbahnstraße, in einem etwas verwilderten Park, gegenüber des Güterbahnhofs gelegen. Die Rationen auf den Lebensmittelkarten wurden immer kleiner. Besonders die Portionen der Tierischen Fette und die wöchentlichen Fleischrationen weniger und weniger. Und dann, was man sich so rumtuschelte, so hinter vorgehaltner Hand war gerade nicht aufmunternd. Wie gut, das Tante Rut und Tante Hedwig uns wieder paar Gänse besorgen konnte, die im Keller von Muttern gemästet und vor Weihnachten geschlachtet wurden. Ein fette Gans war wie auch in den letzten Jahren für Tante Rut, die andern für uns. Wenn dieses Gänsefett und die Stückchen Räucherspeck, die Tante Hedwig auch organisiert hatte, nicht wären; wie hätte dann mittags und abends die Einbrennsoße geschmeckt? Das Gänsefett kam in einem schmalen und hohen Bunzeltopf mit einem Tuch zugebunden in ein Loch im Holzkeller und wurde hauptsächlich für die Einbrennsoße benutzt. Da im Loch im Holzkeller war es recht kühl und das Gänsefett langte bis fast zum nächsten Jahr. Aber diesmal sollte alles anders kommen!
Das Gänsefleisch wurde wie üblich gebraten und in 2 Liter Gläser eingekocht. Es sollte das Jahr über die kläglichen Fleischrationen ein bisschen ergänzen. Aber auch das sollte im kommenden Jahr anders werden!
Aber zurück zu den gedrückten Weihnachtsvorfreuden! Der große Weihnachtsbaum stand an der Ecke beim Centralkino, aber er erstrahlte nicht im festlichen Weihnachtslicht. Offiziell hieß es, es müsse überall für den Endsieg gespart werden, außerdem erlaube die Verdunklungsvorschrift eine Beleuchtung nicht. Auch sollte Papa und Bruder Franz diese Weihnacht nicht zu Weihnachten zu Hause sein; Papas letzter Feldpostbrief kam aus Ostpommern. Bruder Franz war irgendwo bei den Sturmpionieren. Wo wussten wir nicht. Er konnte es uns nicht schreiben, „denn der Feind sollte nicht wissen, wo sie sich aufhielten“, hieß es offiziell. Bruder Klaus hatte Heilig Abend Dienstbereitschaft. Er durfte dafür an den Feiertagen für paar Stunden nach Hause.
Zum andern: Die Pfefferkuchen waren zwar pünktlich gebacken, aber diesmal nur aus selbst geschrotetem Weizen, den wir, meine Mutter und ich, im Rucksack aus Zabelkau von den Bauern Klyschtsch und Solich Franz bekamen. Mein Rucksack packte so ungefähr 10 kg, der von unsrer Mutter etwa 25 kg. Damit mussten wir von Zabelkau bis Annaberg zum Bahnhof gehen, ungefähr 2,5 km, um dann mit der Bahn nach Ratibor zu fahren. Aber auch aus Reigersfeld, nahe Heydebreck, bekamen wir einen halben Zentner Weizen, den meine Muter und ich mit Vaters Hilfe im Spätsommer nach Ratibor brachten.
Mit dem Reigersfelder Weizen ging es so: Mein Vater war nach seiner Einberufung zur Wehrmacht zunächst Zugführer bei einem Scheinwerferzug, der mit der Heimatflack = Kaliber 8,8 cm eine Einheit bildete. Die Scheinwerfer sollten bei Nachtangriffen die Geschütze der Heimatflack unterstützen. In der Regel kamen die Amis am Dienstag und Freitag gegen Mittag über die Alpen in die Reigersfelder Ecke, um die Hermann Görings Werke bis zum Nachmittag zu bombardieren, obwohl die eigentlichen produzierenden Werke längst bombensicher unter der Erde verschwanden; oberirdisch waren nur noch potemkinische Scheinfassaden, aber auch die oberirdischen Gleisanlagen, die von den Amis zerstört wurden.
Als Chef dieses Zuges war er bei einem Bauern in Reigersfeld einquartiert. An einem Samstag im September 1944, mein Vater durfte nach Dienstschluss nach Hause fahren und Sonntag Abend musste er wieder in seinem Quartier in Reigersfeld sein, das telefonisch mit dem Stab der Heimatflack verbunden war.
An diesem Samstag holte meine Mutter und ich unsern Vater in Reigersfeld ab, bewaffnet mit drei Rucksäcken. Wir brachten auf unserm Buckel fast einen dreiviertel Zentner Weizen heim. Ohne diese Schwarzweizenlieferungen wären die Tagesrationen sicher um einiges kleiner ausgefallen und die morgendliche Mehlsuppe viel dünner geraten!
Mit dem Schroten ging das so: Unter der Kellertreppe war ein Fotolabor eingerichtet, das für Fotozwecke nicht mehr genutzt wurde, da es ja kein Filmmaterial etc. gab. Unter der Treppe in dem Kämmerchen war ein stabiler Holztisch, Millimeter genau eingebaut. Auf diesem Tisch wurde eine größere gusseiserne Kaffeemaschine festmontiert. Bis auf die stabile Holztür war alles massiv gemauert, so dass keine Geräusche während des Mahlens nach außen dringen konnten. Angefangen bei Bruder Klaus, der bis zu seiner Einberufung zur Heimatflack, Schwester Käthe, Marianne und ich, haben wir jeder unsere Weizenportion geschrotet und es sah aus, als wenn der Vorrat nie zu Ende gehen wollte; irgendwo wie kam immer etwas Nachschub her. Wir haben bis zum Einmarsch der Roten Arme in Ratibor nicht hungern müssen, aber was die Wurst- und Fleischrationen anbelangt, auch nicht gerade üppig gelebt. Oder, die Fleischportionen am Sonntag und Donnerstag bisschen größer hätten sein können. Wie schon erwähnt, zumal ein selbstgefütterter 1,5 kg schwerer geschlachteter Stallhase zu Mittag für 15 Leute, später für 11 reichen musste.
Zurück zu den Vorweihnachtstagen! Die Pfefferkuchen waren schon gebacken mit selbstgekochten Sirup wie im Vorjahr. Aber für den Weihnachtskuchen langte das Weizenmehl nicht mehr, es müsste noch einiges unter der Kellertreppe geschrotet werden. Also Käthe, Janne und ich, jeden Tag einen Töpfchen; die Kaffeemaschine war auf ganz fein gestellt, feiner als für die morgendliche Mehlsuppe. Für den Weihnachtskuchen sollte möglichst nichts Grobes sein.
Aber der Weihnachtskarpfen, wo bekommen wir den her? Morgen am 23.12. sollte der Weihnachtskuchen gebacken werden und vom Weihnachtskarpfen gab es noch keine Spur. Irgendwie brachte jemand die Kunde, dass es morgen, am 23.12. gegen Mittag in der Hauseinfahrt des Kaffees Residens in Ratibor, Ecke Oberwall-Neue Straße Karpfen geben soll.
Herr Rzytki, ich glaube so hieß der Inhaber des Kaffees Residenz , er hatte in Ottiz einen Karpfenteich, der morgen früh abgefischt werden soll. Gegen Mittag, wenn nichts dazwischen kommt ist er in der Einfahrt. Bald nach dem Frühstück bin ich mit dem Eimer losgezogen, um auch einen großen Karpfen zu bekommen. Ich war zwar nicht der erste, ich glaube das ich der fünfte war und habe meinen Platz tüchtig verteidigt. Und es klappte, ich habe einen gut 3,5 kg schweren Karpfen erwischt, und das ganz ohne Karten, den ich daheim putzte was sonst Mutter immer machte; aber heute mit den Schwestern Kuchen backte. Danach hat Muttern den Karpfen in Portionen zerlegt, eingesalzen und ruhen lassen bis zum nächsten Tag, dem Heiligen Abend. Weihnachten war gerettet, nur fehlte Vater und die zwei ältesten Brüder; wir wussten nur wo Bruder Klaus ist, in Plania bei der Heimatflak, Vater irgendwo in Ostpommern und Bruder Franz, von dem wir keine Ahnung hatten.
Am nächsten Tag, die Weihnachtsvegil, wir hatten wie immer versucht den ganzen Tag zu fasten, um am Abend das „Goldene Kalb“ am Dach zu sehen. Aber wir haben es nie gepackt bis zum dunklen Abend mit dem Fasten durchzuhalten. Irgendwie war die Versuchung doch größer als der Wunsch das Kälbchen auf dem Dach zu sehen, das zu Weihnachten in Bethlehems kalten Stall das Jesuskind mit seinem warmen Atem nicht erfrieren ließ; und wenn es nur ein oder zwei Streusel waren, die wir zum Ärger der Mutter vom Kuchenblech im Keller zupften. Oder es fehlten gerade noch einpaar Minuten zur völligen Dunkelheit. „Schade“, sag ich heute, „dass wir es nicht doch mal durchgehalten haben !“ Es war halt zu schön um wahr zu sein.
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