Kurz vor diesen zwei länglichen Häusern meinte ich eine innere Stimme zu hören, die mir sagte: „Ihr kommt wieder zurück, wenn hier Gras wächst!“ Dieser Satz ging mir damals auf dem Bahnsteig immer wieder durch den Kopf und half die fröstelnde Nacht irgendwie erträglicher zu machen. Anfangen konnte ich damals mit diesem Satz nicht viel, obwohl er mich bei unserem ersten Besuch 1980, als wir das erste Mal nach Ratibor in unsere Heimat fuhren, und Lydia und ich diesen eben beschriebenen Weg gingen, er mir immer wieder durch den Kopf ging. Später, als ich mich mit der Geschichte mehr und mehr auseinander setzte, glaubte ich den Gedanken, den mir meine innere Stimme damals sagte, sich nicht auf Jahre bezog, sondern Generationen dauern kann. Warum?Während der Völkerwanderung im 2.+ 3. Jahrhundert übernahmen die aus dem Osten kommenden Slawen intakte germanische Siedlungen, mit denen sie nicht viel anzufangen wussten. Sie lebten in den Holzhütten, bis sie auseinander fielen. Von Instandhaltung der Wohnhütten, Umgang mit den damaligen primitiven Arbeitsmaterialien, geregeltem Ackerbau und Viehzucht verstanden sie nicht viel. Sie lebten gerade von dem was draußen während der Wachstumszeit wuchs und in der kalten Jahreszeit von Fischen und allem was im Wasser ohne ihr Zutun herauszuholen war.
Woher ich das weiß ? Ich hatte ein interessantes Buch vom Pfarrer Knotek, der Presberger Pfarrer, der auch in meiner Presberger Schule den Kathechismus- unterricht erteilte. Dieses Buch hieß ‚Die Vita der heiligen Hedwig’, herausgegeben vom Erzbistum Berlin, dessen Sitz in Ostberlin ist und war und noch zu DDR-Zeiten erschien. Die schlesischen Ortsnamen wurden in diesem Buch alle nicht mit ihren deutschen Namen in deutscher Sprache geschrieben, sondern zwangsweise mit ihren polnischen Namen in der heutigen polnischen Schreibung. Besonders interessant ist der Abschnitt, in dem die ersten Lebensjahre der hl. Hedwig auf der Breslauer Burg beschrieben werden. Da heißt es: „Mit Widerwillen aß ich das was auf dem Tisch serviert wurde, nicht weil es unappetitlich war oder nicht geschmeckt hat, sondern weil ich wusste, dass das, was mir auf dem Tisch vorgesetzt wurde, nicht in der Burgküche gekocht, sondern aus der nächsten Kate, irgendwo an der Oder den Menschen weggenommen, manchmal regelrecht vom Tisch. Und dieses Essen wurde, wie eben beschrieben aus dem hergerichtet, was gerade die Natur hergab, im Sommer wilde Pflanzen und Körner, im Winter die Fische, Krebse und Frösche,“ was sie, die Slawen gerade habhaft werden konnten. Der hl. Hedwig gelang es mit Zustimmung ihres Gemahls, Heinrich dem Frommen, Siedler aus Deutschland zu holen: Landwirte aus den Flusstälern, Handwerker aus den Städten und Bergleute aus dem Harz. Alle drei Stände haben das Herzogtum Breslau sehr reich gemacht. Die Bergleute haben in Goldberg, einer Niederschlesischen Ortschaft Gold, ähnlich wie in Südafrika, regelrecht in der Erde, bergbaumäßig, abgebaut. Heute heißt dieser Ort Zlotoria, früher Goldberg und ist eine Stadt. Die beiden anderen Stände, Bauern und Handwerker versorgten sich gegenseitig und lebten nach dem Magdeburger Recht. Der Herr bekam den 10. Teil von allem was im Jahr erwirtschaftet wurde. Waren die Untertanen fleißig, waren die 90 % die ihnen verblieben viel, aber auch die 10 %, die der Herr von allem bekam, waren für den Herrn sehr viel; jedenfalls so viel, dass das Herzogtum Breslau bald das führende Herzogtum, nicht nur in Schlesien, sondern weit bis nach Polen hinein wurde. Bisschen später haben das Herzogtum Oppeln und Ratibor nachgezogen und Siedler und Handwerker aus dem Westen in ihre Gebiete geholt. Nur sie hatten keine Stadt, die Goldberg hieß und das schwarze Gold war damals noch nicht bekannt. Eine Ausnahme bildet Ratibor. Ratibor war eine urdeutsche Siedlung die schon im 11. Jahrhundert bestand, urdeutsch und so wohlhabend und nie anders hieß als Radibor oder Ratibor, dass der Herzog von Ratibor im 13. Jahrhundert nach der Rückführung von Kaiser Barbarossa aus Altenburg im Osten Mitteldeutschland nach Schlesien zu seiner Hauptstadt erkoren hat. Barbarossa hat Polen gezwungen auf ewige Zeiten auf Schlesien zu verzichten. Die von Barbarossa nach Schlesien zurückgeführte Piasten Familie hatte drei Söhne. Und Schlesien wurde dementsprechend unter diesen drei Söhnen aufgeteilt. Angeblich hat auch Auschwitz damals zu Oberschlesien/Ratibor gehört. Der Piasten Sohn, der Oberschlesien zugeteilt bekam, machte Ratibor, vermutlich wegen seines geregelten Wohlstands, zu seiner Hauptstadt, denn der Zehnte, der an ihn entrichtet wurde war nicht gering. Ab Ende des 13. Jahrhunderts kamen immer mehr Slawen aus der umliegenden Gegend, angelockt durch den Wohlstand der Stadt, in die Stadt. Doch durch den Zuzug der Slawen mehrte sich der Wohlstand nicht. Je mehr Slawen zuzogen, um so schlechter ging es der Stadt. Die Urkunden des Herzogs von Ratibor die er der Stadt zukommen ließ waren noch ca. 1415 in deutscher Sprache geschrieben. Danach in böhmischer. Dementsprechend war auch der 10., der dem Herzog entrichtet werden musste, immer geringer. Er war Ende des 15. Jahrhunderts so gering, dass der Herzog in Existensschwierigkeiten geriet. Die Einnahmen waren so gering, dass er bei Nacht und Nebel Menschen, die nach Geld aussahen einfach entführen ließ und die Angehörigen durch ein hohes Lösegeld sie frei kaufen konnten. Erst als die zugezogenen Neubürger lernten, dass man vom Mundraub = fischen bei Nacht und Nebel in der Oder oder der Pschinna, Betteln, ernten bei Nacht und Nebel und Gelegenheitshandgriffen allein nicht gut leben kann, versuchten sie das eine oder andere zu lernen und einer geregelten Arbeit nachzugehen. Bei einigen war es in der dritten Generation so weit, bei anderen erst in der vierten oder fünften. Nachlesen kann man das eben geschriebene in „Geschichte Ratibor“ bei Dr. Welzel, seinerseits Pfarrer in Tworkau.
Aber zurück zum Bahnsteig am Bahnhof in Ratibor Süd. Abwechselnd gingen wir in den kleinen Wartesaal im Bahnhof, um nicht zu erfrieren, obwohl es da drinnen auch nicht viel Wärmer als draußen war. Es konnte so gegen 5 Uhr morgens sein; irgendeiner meiner Geschwister, ich weiß nicht mehr wer es war, sagte ziemlich laut: „Lasst uns wieder heimgehen. Ihr seht ja, dass das Blitzen da hinten nachgelassen hat.“ Bald waren es 3 und vier Stimmen, die da fürs Heimgehen waren. Da hörte ich wieder meine innere Stimme, die mich regelrecht schreien ließ: „Nein, nicht heimgehen, nicht heimgehen, ich will leben, ich will leben!“Wie Recht ich hatte mit meinem Schrei haben wir etwa 5 Wochen später erfahren, als wir aus Wernersdorf zurückkamen. Dazu später mehr! Es konnte zwischen 6 und 7 Uhr gewesen sein. Ich wartete draußen am Bahnsteig und hörte, dass ein Zug sich näherte. Noch bevor ich schreien konnte dass ein Zug kommt, kamen die restlichen Sobottaner aus dem Wartesaal auf den Bahnsteig, vermutlich hat der diensthabende Eisenbahner telefonisch mitgeteilt bekommen dass ein Güterzug den Bahnhof passieren wird. Jedenfalls hielt der Güterzug, wir konnten in einem Güterwagen einsteigen und ab ging die Fahrt. Wir saßen im Güterwagen auf dem Boden und wussten nicht in welche Richtung wohin wir fuhren. Normalerweise führte die Strecke nach Katscher. Irgendwann hielt der Zug; durch die Ritze des Güterwagenfensters konnte man sehen, dass es schon dämmerte. Unsere Wagentür wurde geöffnet und wir mussten aussteigen. Man sagte uns wir wären in Bauerwitz. Und auf die Frage wohin wir wollten sagte Mutter wohl weil ihr nichts Besseres einfiel: „Nach Wernersdorf bei Leobschütz.“ Da lebte eine Cousine der Mutter, die mit einem Studienkollegen meines Vaters verheiratet war und in Wernersdorf Lehrer an einer einklassigen Volksschule war.
„Nach Wernersdorf wiederholte der Eisenbahner, nach Wernersdorf, da habt ihr aber Glück, heute Nachmittag fährt von Bauerwitz ein Zug in Richtung Leobschütz und weiter, und wenn ihr brav seid“, sagte er augenzwinkernd zu uns Kindern, „nimmt er euch mit und lässt euch in Wernersdorf aussteigen.“ An Essen hat keiner gedacht, nur hundsmüde waren wir. Ich weiß noch, Mutter saß auf einem Stuhl im doch recht behaglichen Wartesaal, und an ihre Beine angelehnt schliefen wir am Boden sitzend, ich und alle nach mir kommenden Geschwister. Ob Mutter während dieser paar Stunden ein Auge zubekommen hat, ich glaube nicht. Sie hat, wie eine Mutter eben ist, über ihren Kindern gewacht. Am frühen Nachmittag wurden wir geweckt. Es hieß, der versprochen Zug kommt und nimmt uns mit nach Wernersdorf. So geschah es auch. Der Wernersdorfer Bahnhof lag etwas außerhalb des Ortes und wir dann ungefähr 20 Minuten bis zur Dorfmitte laufen mussten. Tante Martel war nicht wenig erstaunt als wir neun Persönchen vor der Tür standen; Marta Jeschke war schon zu Beginn der 2. Januardekade mit den Ratiborern getürmt.
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