Die Lehrerwohnung war sehr geräumig, größer als die Lehrerwohnung in der einklassigen Volksschule in Espenschied. Auch das Klassenzimmer in Wernersdorf war etwas geräumiger. Die Stimmung bei Tante Martel war nicht die beste, überhaupt in der ganzen Familie. Bald erfuhren wir warum, was passiert war. Onkel Viehweger war aufgrund seiner Verletzungen aus dem 1. Weltkrieg nicht Kv geschrieben und deswegen nicht eingezogen. Da auch von Wernersdorf die Front nicht allzu weit schien, mussten die Wernersdorfer Großväter ihren Dienst im heimatlichen Volkssturm ausüben, der daraus bestand, dass sie mit dem geladenen Karabiner im Dorf patrouillieren mussten. Am Ende ihres Rundgangs brachten sie das Gewehr in die Schule, machten Meldung über eventuelle oder keine Vorfälle, stellten das Gewehr in den ausgeräumten Schulschrank , versicherten, dass es ordnungsgemäß entladen und die Munition in der Munitionskiste verwahrt ist. So auch vor einer Woche. Die Gewehre waren wohl im Klassenschrank. Klassenschrank und Klassenzimmer waren aber nicht abgeschlossen. Und so eine kinderleere aber noch komplett eingerichtete Schulklasse war doch der idealste Spielplatz, wenn es draußen wettermäßig nicht sehr einladend war, so auch vergangene Woche. Ein „Volkssturmler“, der seinen Patrouilliergang beendet hat, stellte die Knarre in den Schrank und versicherte dem Onkel, dass sie nicht geladen sei. Es dauerte gar nicht lange, und Günter und seine Geschwister spielten in der Klasse. Günter, der älteste Sohn der Familie Viehweger ging an den Schrank, holte eines der abgestellte Gewehre aus dem Schrank und zielte auf seine jüngere Schwester Maria und sagte zu ihr: „Was würdest du machen, wenn ich jetzt abdrücke?“ Maria lachte und sagte: „Drück doch ab, es ist doch nicht geladen!“ Günter drückte ab und es knallte fürchterlich, wie es eben knallt in einem geschlossenen Raum. Tante Martel kam nach dem lauten Knall ins Klassenzimmer gelaufen; auf der Erde lag Maria und hinter ihr der jüngste Bruder . Da Günter auf die kleinere Schwester von oben zielte, durchschlug die Kugel ihren Hals und Wirbelsäulenpartie, fast ein Genickschuss von vorne und dem hinter ihr stehenden kleinen Bruder einen Durchschuss durch das Gehirn, auch von oben nach unten. Beide waren auf der Stelle tot. Wer war hier schuld? Mit einer Kugel wurden zwei junge Menschenleben so mal „zwischendurch“ ausgelöscht.
Ich war bestimmt als Kind ein hässlicher Vogel im Gegensatz zu Maria. Warum? Ich war mit meinem Vater des öfteren in Wernersdorf. Auf der Rückfahrt hat Vater fast immer bisschen Weizen im Rucksack heimgebracht, den Onkel Viehweger in Wernersdorf organisiert hat. Bei diesen Besuchen kam ich mit Maria prima zurecht, was ich von den Mädchen auf der Neugartenstraße in Ratibor nicht sagen konnte, ausgenommen von der Juta Schwirz, die 1944 an Diphtherie starb. Auf der anderen Seite kann man auch sagen: „Lieber Gott, was hast du diesen Kindern vielleicht alles erspart ?“ Mutter, Käthe und Janne halfen tüchtig im Haushalt bei Tante Martel mit. Wir beide, Kalle (gleich Bruder Georg) und ich erkundigten mit Günter und einigen Wernersdorfern die Umgebung, bewunderten die Soldateneinheiten, auch junge SS-Einheiten, die auf dem Marsch an die Front in Wernersdorf Rast machten. Mir gingen damals schon so komische Gefühle durch den Bauch, als ich die jungen Soldaten da sah, von denen die meisten nicht älter waren als Bruder Franz. Von zuhause kannte ich den Begriff „Kanonenfutter“. Sollten diese halbwüchsigen Männer auch nur noch Kanonenfutter für die Bonzen sein, die im Berliner Reichstagsbunker nicht krepieren wollten und wenn, es die letzten sein wollten, die sterben mussten an ihrem Größenwahn!
Der Februar wurde immer angenehmer, was das Wetter anbetrifft. Irgendwoher hat Günter einen Fußball aufgetrieben und wir durften hinter Bauer Puschkes Scheune auf der Wiese spielen. Das Wetter war so angenehm und tagsüber so warm, dass wir bar Fuß und nur im Dresshemd, fast oberkörperfrei spielten. Eines Tages hielt eine kleine Einheit im Dorf. Sie führte auch einige Wagen mit sich, die von panjeähnlichen Pferden gezogen wurden. An einem der Wagen war hinten ein Pferd angebunden, dass unten an den Vorderbeinen, im unteren Bereich, verletzt war. Wir Kinder kamen mit den Soldaten, die auf dem Weg nach Leobschütz waren, also weg von der Front ins Gespräch. Ich fragte den Soldat was mit den hinten angebunden Pferd passieren soll? Er fragte uns etwas scherzhaft, warum wir fragen, ob wir es etwa verwursteln wollen. Wir merkten bald, dass das Pferdchen recht zahm war und antworteten ihm „ Jain“.„Und wo wollt ihr es bis dahin unterbringen, doch nicht etwa bei Mutti, die auch so allein ist?“ fragt er. Im Moment wussten wir keine richtigere Antwort, als ihm zu sagen, dass bei Mutti im Schlafzimmer zur Zeit kein Platz sei, denn da schlafen wir. Aber Günter, unser Großcousin hatte die richtige Antwort parat: „Wir bringen das Pferd bei Bauer Puschke unter und pflegen es gesund, tja und dann haben wir ein eigenes Reitpferd!“ Bauer Puschke fiel im ersten Moment aus allen Wolken, als wir da ankamen. Offensichtlich wollte er kein Spielverderber sein, der auch icht mehr an den Endsieg geglaubt hat, denn für die Landwirtschaft war dieses Dreiviertelpony zu nichts zu gebrauchen. Auf der anderen Seite ahnte er wohl, dass dieses Pferdchen nichts mehr kaputtmachen kann, denn die Front kam auch Wernersdorf immer näher.
Jedenfalls wuschen wir unter Aufsicht von Herrn Puschke am Spätnachmittag die Wunden unseres Pferdchens mit Sagrotanwasser. Trotzdem waren am nächsten Tag einige Verletzungen mit dicken Eiterblasen versehen, die Bauer Puschke , als wir nach dem Frühstück beim Pferdchen auftauchten mit seinem Messer aufschnitt. Es hat Hansi beim Öffnen der Eiterblasen sicherlich keinen Schmerz bereitet; beim anschließenden Waschen mit Sagrotanwasser zuckte es schon zusammen. Bauer Puschke sagte uns jeden Tag mit vollem Ernst, dass wir dem Hansi, so haben wir es getauft nur ein zwei Hände Hafer früh und abends geben sollten, ansonsten langt das Heu und das Wasser. Wenn es wieder laufen kann, dürft ihr ihm mehr Hafer geben. Warum wir ihm nur jeweils zwei Hände Hafer geben sollten sagte Bauer Puschke uns nicht. Heute weiß ich es. Hafer gibt den Pferden ungemeine Kraft die unser genesender Hansi in der Fülle nicht gebraucht hat, um übermütig zu werden.
Es konnten so zwei weitere Tage vergangen sein, nach dem Frühstück gingen wir zu Hansi. Die Wunden an den Füßen sahen recht gut aus und Bauer Puschke war nicht zusehen. Die Sonne schien vom fast blauen Himmel und die Temperaturen waren für einen Februar recht angenehm. Wir banden ihm einen Strick um den Hals und führten ihn hinaus auf den Hof. Kaum war Hansi draußen an der Luft, blieb er stehen, schnupperte mit erhobenen Nüstern ob die Luft da draußen auch so sicher ist wie im Stall und ging dann mit uns durch die Scheune auf die dahinter liegende Wiese, die wir bisher als unseren Bolzplatz genutzt haben. Jeder durfte nun Hansi am Strick halten und mit Ihm eine Runde um die Wiese drehen. Günter, Tante Martels ältester Sohn, unser Cousin 2. Grades war der Älteste in der Klicke und meinte, er dürfe als erster auf dem Rücken von Hansi sitzen. Nur klappte es so gar nicht ohne üblicher Hilfe, Sattel und Steigbügel, auf den Rücken von Hansi zu gelangen. Meine gefalteten Hände haben den Steigbügel ersetzt und Bruder Kalle half mit beiden Händen seinen Po in die richtige Höhe zu drücken. Nach mehreren Versuchen saß er auf Hansis Rücken. Während dieser Aufsteigeprozedur stand Hansi ganz ruhig, so als ob er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht hätte als ein Spielzeug für heranwachsende Jugendliche zu sein. Er drehte auf Hansis Rücken, von uns geführt, eine Runde nach der anderen. Die Glocke der Wernersdorfer Kirche läutete 12 Uhr mittags und Günter saß noch immer auf dem Rücken von Hansi. Wir waren so tief in das Geschehen vertieft, dass wir gar nicht merkten, dass Bauer Puschke unser Tun beobachtete. Gegen halb Eins rief er zu unserem Schrecken, dass wir so langsam Pause machen können, Hansi habe bestimmt Hunger. Also führten wir Hansi mit seinem Reiter Günter in den Stall. Bauer Puschke führte seine Hand über den Hals und den Rücken und sagte zufrieden: „Ihr habt Hansi nicht überfordert; ihr dürft ihm zu Mittag auch drei Hände Hafer geben, wenn ihr am Nachmittag ihn auch auf der Wiese spazieren führt. Bald nach dem Mittagessen waren wir drei wieder bei Hansi im Stall. Wir meinten Hansi habe schon auf uns gewartet. Glücklich führten wir ihn aus dem Stall durch die Scheune auf die dahinter liegende Wiese. Jetzt durfte ich mit Günters und Kalles Hilfe auf Hansis Rücken. Günter und Kalle führten es wie am Vormittag am Strick. Nach etwa zwölf Runden stieg ich ab und Bruder Kalle wurde auf Hansis Rücken gehievt. Günter führte Hansi, während ich im Hof ein stärkeres Kaliber von Pferd führen durfte. Bei Bauer Puschke arbeiteten zwei Ukrainer als Knechte. Der ältere war bisschen von gedrungener Statue und nicht zu groß geraten, aber recht gutmütig. Er kam zu uns und fragte mich, der gerade den Zuschauer spielte, ob ich mit Max im Hof spazieren wollte? Ich nickte und ging mit ihm in den Hof zum Pferdestall. Max war ein knapp zweijähriger Hengst, der vor ein paar Tagen sterilisiert wurde. Max war mit seiner fast zwei Meter Stockhöhe um vieles höher als ich kleiner Knirps. Und da kam Max aus dem Stall und man sah auf dem ersten Blick was für ein stolzer Kerl er im Gegensatz zu unserem fast kleinen Hansi war. Der Knecht gab mir die Leine in die Hand und schärfte mir noch ein, dass ich ihn ja ganz fest halten soll und er mir nicht abhaut. Ich kleines Wichtelchen kam mir furchtbar stolz vor als ich dieses große Prachtexemplar an der Leine führen durfte. Ich hab schon bestimmt fünf oder sechs Runden um den länglichen Misthaufen im Hof gedreht, immer ehrfurchtvollen Abstand zu Max gehalten; hautnah wie bei Hansi habe ich es bei Max nicht gewagt. Irgend was muss der Knecht, der an einer Ecke beim Misthaufen an einem Wagen etwas reparierte gemacht haben. Was habe ich bis heute nicht erfahren. Plötzlich wie von der Tarantel gebissen setzte Max zum Sprung an und diagonal, quer durch den Misthaufen an die andere Ecke. Wie sagte doch der Knecht bevor er mir Max übergab. „Und immer festhalten, dass er nicht abhaut!“ So tat ich es auch. Für den kräftigen Max war’s kein Problem mich durch den Misthaufen zu ziehen. Gemäß der Devise, immer festhalten, landete ich an der anderen Ecke des Misthaufens in einer Jauchenpfütze. Max blieb ganz ruhig stehen, als genösse er es das Bild. Ich sah und roch mehr nach Mist und Jauche als nach einem Menschenkind. Der Knecht schüttelte sich vor Lachen und lachte Tränen, als er das erbärmliche Bild, der erhabene Max und mich armseliges Bündel vor dem Pferdestalleingang sah. Ich war trotzdem stolz, dass ich bei all dem Mist die Leine fest in der Hand hielt. Ich ging nicht mehr zu den andern auf die Wiese, sondern zur Mama, die mich gleich in den Keller in die Waschküche verfrachtete. Nicht nur die mistverschmutzten Klamotten, auch ich wurde eingeweicht und geschrubbt. Da ich die Sonntagsklamotten nicht anziehen durfte musste ich in den Schlafanzug und der Tag war für heute für mich gelaufen. Hansi haben die Wernersdorfer Buben und Kalle für heute versorgt.
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