Im Sommer 1944 wurde Bruder Franz über das Wehrertüchtigungslager zu den Sturmpionieren eingezogen. Wir dachten immer dazu kommen nur junge sportliche Männer. Bruder Franz war garantiert kein sportlicher Typ, er konnte wohl schwimmen; er war ein 200%tiger Bücherwurm.
Nach seiner Kurzausbildung kam er an die Westfront und nach der Kapitulation 1945 in amerikanische Gefangenschaft. Das Gefangenenlager bestand aus einer fast knietiefen moorastigen Wiese, westlich des Rheins zwischen Mainz und Bingen, ohne etwas über dem Kopf oder unter sich zu haben. Es regnete viel und die Nächte waren noch bitter kalt. Zu essen und zu trinken gab es außer dem Regenwasser in dem man saß oder lag, auch die, die schon den Geist aufgegeben hatten, nicht viel. Und so wurde erzählt, dass die amerikanischen Wachsoldaten in nichts den SS-Schergen nachstanden. Die Gefangenen starben wie die Fliegen, bedingt durch Hunger, Kälte, Nässe und dem unsauberen Wasser. Bruder Franz hatte vermutlich sein Leben einem älteren Landsmann zu verdanken, der ihn nicht nur fast väterlich „umsorgte“, sondern das bisschen Etwas was sie bekamen, seine Ration noch zusätzlich brüderlich mit ihm teilte. Franz wurde bald von den Amis nach Frankreich an einen französischen Bauern verdingt.
Tante Magda, die jüngste Schwester meines Vaters, war Mädchen für alles bei Dr. med. Schierschwitz in Trachenberg bei Breslau. Sie, die Frau des Arztes war einige Jahre älter als er. Der Herr Doktor hat sie als Witwe mit zwei oder drei Kindern geheiratet. Er selbst hatte keine Kinder mehr mit ihr. Tante Magda war nicht nur die rechte Hand in der Praxis bei Tag und bei Nacht; sie half auch in der Küche mit , wenn es zu viel für Frau Doktorwurde. Etwa 1931/32 hat der Doktor Tante Magda den Führerschein fürs Auto/PKW machen lassen, weil ihm das Nachtfahren zu den Kranken immer schwerer fiel. Als der Krieg mit Frankreich ausbrach, kam in die Trachenberger Ecke ein französisches Gefangenenlager, das auch von Dr. Schierschwitz betreut wurde. Offensichtlich waren nicht nur der von den Franzosen gewählte Interessenvertreter, sondern auch die übrigen Gefangenen mit der deutschen gesundheitlichen Betreuung sehr zufrieden. Einer der Franzosen, der mit der ärztlichen Betreuung mehr als zufrieden war, war Monsieur Gronier, der glaubte, dass sie wie Menschen vom Arzt und seiner Assistentin, Tante Magda, behandelt worden zu sein. Auf diesen Monsieur Groniere werde ich später auf dieser Seite, etwas weiter unten noch einmal zurückkommen.
1944, Tante Magda musste der Frau des Arztes am Sterbebett hoch und heilig in die Hand versprechen, dass sie den alten Herrn Doktor, wenn’s bald durch dick und dünn geht nicht verlassen werde. Sollte es tatsächlich solche Todesvorahnungen geben, was den Schlesiern bevorstand?
Der eine Stiefsohn des Arztes war nicht nur auf Grund seiner Ausbildung und dessen was er tat ein Goldfasan, er war auch ein Emporkömmling des dritten Reiches und besaß eine größere Villa am Königsee. Anfang Januar 1945, die Front stand in Reichweite von Trachenberg und alles was konnte verließ fluchtartig die geliebte Heimat auch das französische Gefangenlager und unser Dr. Schirschwitz mit Tante Magda. Im vollgepackten PKW ging es in Richtung Königsee, so weit der Sprit reichte! Die größere Hälfte lag noch vor ihnen, da war der Sprit alle. Weiter ging es in überfüllten Zügen tagelang bis ans Ziel. Doch bevor es zur Flucht kam, bekam Tante Magda vom Monsieur Groniere seine Heimatadresse. Er wäre gerne mit ihr weiter im Briefkontakt geblieben, obwohl er Tante Magda des öfteren versicherte, glücklich verheiratet zu sein. Ich glaube die Basis der guten Harmonie war der katholische Glaube. Während er in der deutschen Gefangenschaft recht gut deutsch lernte, verstand Tante Magda nur paar französische Wörter. Und Bruder Franz hatte von Tante Magda ihre eventuelle Adresse vom Königsee; im Kopf. Franz erster Brief aus der französischen Gefangenschaft schrieb er an Tante Magda. Sie wiederum schrieb an Monsieur Louis Groniere, France – Abonette par Pessac Gironde,dass ihr Neffe in Frankreich dort und dort bei einem Bauern zwangsverpflichtet sei. Es dauerte nicht lange und da tauchte Monsieur bei dem Bauern auf mit dem er ein ernstes Gespräch unter vier Augen führte und dann mit Bruder Franz. Der französische Bauer war wie umgewandelt. Er sah auf einmal in dem deutschen Gefangenen keinen deutschen Bösewicht, der für all das was die Deutschen in Frankreich angerichtet haben büßen muss. Er wurde ab sofort als gleichwertiges Familienmitglied angesehen, das wie die anderen Familienmitglieder in der Landwirtschaft mithelfen und am Familientisch mitessen durfte.
Als er aus französischer Gefangenschaft entlassen wurde, kam er nach Erbach im Rheingau zu Onkel Erich und Tante Lissi. Onkel Erich war der jüngere Bruder unseres Vaters. Hier besuchte er das Gymnasium in Geisenheim und machte im September 1949 sein Abitur. Nach dem Abitur ging er zu den Jesuiten und kam zunächst nach Pullach bei München, wo er seine „Einstiegspraktika“ absolvierte, aber es war auch das Pullach bei München, in dem die Zentrale des neuen deutschen Geheimdienstes war. Dazu später mehr.
Bruder Klaus blieb zunächst noch bei der 3,8 cm Heimatflak in Plania.
Kapitel 2 Anuschka bei uns
Vielleicht sollte ich hier die Anuschka erwähnen. Anuschka, was so viel wie Anna heißt, wurde in der Ukraine als Fremdarbeiterin nach Deutschland verpflichtet und als Landwirtschaftsarbeiterin nach Dirschel auf den Hof des Herrn Barons Rudno von Rudzinski gebracht.
Ich habe im 1. Kapitel seinen Sohn Joachim erwähnt. Er war ein Klassenkamerad meines ältesten Bruders Franz am Realgymnasium in Ratibor. Meine Eltern sind 1941 von Zabelkau oder Ruderswald II, wie es jetzt hieß Kr. Ratibor nach Ratibor Stadt gezogen, weil mein Vater an die Realschule, früher Ursulinenschule auf der Zwingerstraße, versetzt wurde; bzw.: er hat sich um die Stelle als Mathematik-, Chemie- und Physiklehrers beworben. Die Eltern haben in der Neugartenstraße 14 das Haus „Villa Spineviel“ erworben, ein Eckhaus, das vorher dem Ratiborer Stadtkämmerer Baurat Kammer gehörte und in seiner Eigenschaft nach Kattowitz versetzt wurde, mit 10 Zimmern, drei Toiletten, ein geräumiges Badezimmer und Bademöglichkeit im Keller in der Waschküche. Das schönste Zimmer im Haus, das Eckzimmer mit Blick nach Osten im ersten Stock gelegen, war das Fremdenzimmer. Im Zimmer brauchte man keinen Wecker, man wurde von der aufgehenden Sonne geweckt. Eines Tages, im Frühsommer 1942 nach dem Mittagessen, Bruder Franz hatte Küchendienst, was soviel heißt: Geschirr abtrocknen. Ich war wie immer bei Muttern in der Küche und hörte, wie Bruder Franz der Mutter sagte, dass wir das Eckzimmer eigentlich an den Joachim vermieten könnten. Mutter fragte: „Wer ist denn dieser Joachim?“ Franz erzählte ihr, dass dieserJoachim aus Dirschel komme, das nahe bei Katscher liege und er Logant sei im Hause, den Namen weiß ich nicht mehr. Es war ein mehrstöckiges Haus, das auf der Troppauer Straße stand, einem Bauunternehmer gehörte und im Hinterhof, gut einsehbar von der Wilhelm Busch Straße, sich der Bauhof befand und etwas schräg gegenüber auf der Troppauer Straße war die Wäscherei Schliewe. Und unten im Haus war ein Papiergeschäft, in dem wir unseren Schulbedarf kauften. Oben auf dem Balkon im zweiten Stock hing ein Vogelkäfig mit einem bunten Papagei, der den untengehenden Menschen nachpfiff.
Joachim fühlte sich dort nicht wohl. Ich bekam nur soviel mit, dass es da noch steifer zuging als im elterlichen Gemäuer. Es dauerte nicht lange und an einem der nächsten Wochentage stand Joachims Vater in der Küche. Er, Vater und Mutter gingen hinauf in den ersten Stock, begutachteten das Eckzimmer, in dem sich auch ein Waschbecken mit warmen und kaltem Wasser befand. Und ich wie immer der Lauscher an der Wand bekam auch hier alles mit – für 30 Mark Vollpension war der Vertrag per Handschlag besiegelt. Offensichtlich ist Herr von Rudzinski mit den bisherigen Vermietern einig geworden, denn Joachim stand schon am nächst Sonntag Abend, in den Händen einen Reisekoffer und die Büchertasche und am Rücken einen Rucksack, in dem sich unter anderem ein großes rundes Brot, das er zusätzlich zu den Lebensmittelmarken, an jedem Sonntag mitbrachte. Ich kann ihn nur als sehr liebenswürdig und zuvorkommend beschreiben, war aber auch für jeden Scherz zu haben. Meine zwei älteren Brüder und er haben, wenn es zum Nachtisch eine in Seidenpapier ähnliches Papier eingepackte Apfelsine gab, sie so geöffnet, dass wenn der Inhalt der Apfelsine aufgegessen war, die Leere Schale mit dem Papier und den Schalen de anderen Apfelsinen auffüllten, sie dann wieder im Apfelsinenpapier zupackten, einen dunkelgrauen Zwirnfaden an das Papier befestigten und die dann verblüffend ähnlichaussehenden Apfelsinen durch das Kellerfenster auf den Gehweg legten, das Kellerfenster wieder anlehnten und nun warteten, bis ein Vorbeigehender sich nach der Apfelsine bückte, um sie dann vor der zugreifenden Hand wegzuziehen. Das selbe machten sie auch mit leeren Geldbörsen. Die meisten Bücker haben über diesen Schabernack gelacht. Es gab auch welche, die sich darüber lautstark aufregten. Joachims Vater sagte noch zu unsern Eltern, dass für Joachim keine Extrawürste bereitet werden müssen. Er soll so wie die andern Kinder der Familie behandelt werden. Auch sagte er, dass die Kartoffeln mit der Einbrennsoße und dem Sauerkraut auch für ihn gelten sollten. Denn seine Lebensmittelkarte sollte auch für ihn reichen. Trotzdem brachte er an jedem Sonntag zusätzlich ein am Samstag gebackenes großes rundes Brot, von dem wir alle mitaßen.
Читать дальше