Entsetzt sehe ich, dass sie an der Schraube des vorderen Drehbeines dreht. Meinen fragenden, missbilligenden Blick beantwortet sie mit einem Achselzucken. Sie weiß genau, dass ich es hasse, wenn jemand ohne die elektronische Wasserwaage aufzulegen, das Dreibein verstellt. Schnell, bevor ich ihr reinreden kann, wirft sie die Kugel ab. Danach kommt sie näher und flüstert mir zu: „Wie soll ich mich anders wehren? Ich weiß, dass Du das nicht vertragen kannst. Aber wenn ich jetzt die Waage auflege, geht der Lange vielleicht an die Kasse. Dann ist der mit fünf Mille durch die Türe. Wer weiß, wann wir die Chance haben, die zurückzukriegen. Außerdem hat der Kessel sowieso ‚ne Macke. Jetzt habe ich die nur ein bisschen verlagert. Mal sehen, was dabei herauskommt. Schlechter kann es auf keinen Fall werden!“
Der Kölner nickt bestätigend. Er hatte die leise Diskussion zwar nicht gehört, aber unsere Gestik verstanden. Nun will er mir versichern, dass das die einzige Möglichkeit wäre. Energisch und laut sagt Hilda: „So, nichts mehr! Was ist denn da los? Die Hände aus dem Tableau!“ Erschrocken hören die Nachzügler mit dem Platzieren auf. Gespannt verfolgen wir nun, zu dritt hinter der Maschine stehend, die letzten Runden der Kugel. Als die Kugel in eine freie Zahl gefallen ist, nicht einer der Spieler gewonnen hat, geht ein enttäuschtes Raunen durch den Saal. Erstaunt sieht Luigi die Mitarbeiterin an und fragt: „Was ist Dicke? Hast Du ein Piss-Ding gemacht? In dem Sektor ist doch die ganze Zeit keine Kugel gefallen!“
In ihrer maskulinen, direkten Art antwortet die Angesprochene: „Ich? Pissdinger mache ich nie! Das musst Du Dir mal merken, lange Spaghetti! Darf dort keine Kugel fallen? Schließlich sind die Zahlen doch nicht zugeklebt!“ und grinst den Gast spöttisch an. Beim nächsten Spiel sieht das Tableau schon wieder ganz anders aus. Da die Spieler nicht mehr von der Unbesiegbarkeit des Italieners überzeugt sind, setzen sie wieder die Zahlen, die sie selbst bevorzugen. Somit ist das Zahlenfeld gleichmäßiger belegt. Wie schnell die Leute doch ihre Meinung ändern, denke ich. Nachdem Luigi drei Spiele keine Anzahlung mehr bekommen hat, geht er zur Kasse. Immerhin noch ein schöner Erfolg für ihn. Er hat viertausend Mark gewonnen.
Als gegen zwanzig Uhr, wie jeden Samstag, das Büffet geliefert wird, fällt mir auf, dass ich noch nichts gegessen habe. Freundlich begrüße ich die Lieferantin, Frau Metzger. Sie und ihr Mann sind normalerweise häufige Kunden von uns. In den letzten Wochen habe ich die Beiden nicht mehr gesehen. Auch das Essen hatte sie von ihrem Personal bringen lassen. Eigenartig. Nachdem sie das letzte Tablett hereingetragen hat, will ich die Lieferung bezahlen. Doch sie erklärt mir, ich könne das später erledigen, sie würde heute Abend zocken kommen. Bevor sie geht, weist sie mich noch auf den leckeren, selbstgemachten Kartoffelsalat hin. Ich solle tüchtig essen, damit ich mal wieder etwas zulege. Ich wäre zu mager geworden.
Der Vorraum füllt sich mit hungrigen Gästen. Die heiße Schlacht um das kalte Büffet beginnt. Ich bitte unsere Bedienung, für mich einen kleinen Teller zu füllen. Ich möchte das nicht selbst machen, weil mir beim Anblick des Gedränges der Appetit vergehen würde. Wenn ich dann noch zusehen müsste, wie unappetitlich in den Salaten gematscht wird, würde sich mein Magen um sich selbst drehen. Aus diesem Grunde beauftrage ich lieber meine Mitarbeiterin. Wäre das Samstags-Buffet nicht deshalb so wichtig, um den ruhigsten Tag der Woche etwas zu beleben, würde ich auf dieses gierige Gedränge verzichten.
Den Abend schließen wir mit einem geringen Verlust ab. Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Die finanzielle Situation ist zwar gespannt, aber noch nicht kritisch. Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass meine Entscheidung nur vorteilhaft sein kann. Micki, der kurz vor ein Uhr zur Nachtwache gekommen war, fragt mich, schon an der Tür stehend: „Hast Du denn wenigstens einen vernünftigen Videofilm zu Hause? Ich bin noch gar nicht müde.“
Überrascht erwidere ich: „Ich weiß nicht genau, ob ich in dieser Richtung was zu Hause habe. Wenn, dann nur selbst aufgenommene. Notfalls kann ich Dir jedoch mit ein paar guten Büchern aushelfen. Mein Sortiment ist sehr reichhaltig.“ Missmutig verzieht der Kunstbanause das Gesicht. Ich entschließe mich, mit ihm zu fahren und meinen Wagen stehen zu lassen. Es ist fast eine Zeremonie, bis ich endlich das Haus betreten kann. Erst fährt er dreimal um den Block, dann muss ich hinter dem Steuer seines laufenden Fahrzeuges sitzen bleiben, bis er das Gelände um das Haus herum, ausgekundschaftet hat. Erst als alle diese Vorsichtsmaßnahmen erledigt sind, darf ich endlich aussteigen und ins Haus gehen.
Aufatmend schließe ich die Wohnungstür hinter uns ab. Nachdem ich ihm im Wohnzimmer auf der Couch sein Nachtlager hergerichtet, ihn mit Videofilmen und Getränken versorgt habe, gehe ich ins Schlafzimmer. Lange liege ich wach, ich bin nervlich zu aufgedreht, um direkt einzuschlafen. Das Schlafzimmer ist der größte Raum in meiner 4-Zimmer-Wohnung. In meinem mit braunen Velours bezogenen Jet-Bett liegend, blicke ich mich um. Die Ausstattung habe ich elegant hinbekommen. Zu der chinesischen Bunt gras-Tapete passt der hell-beige Velourbodenbelag. Die ganze Fensterwand habe ich mit einem bodenlangen, modern gemusterten blass grün-goldenen Vorhang dekoriert. Gegenüber dem großen Bett hat inzwischen ein kleines Kieferbett mit einer bunten Tagesdecke für die kleine Rabea Platz gefunden. Das kleine Regal daneben ist mit Stofftieren und allerlei Spielzeug überfüllt. Der Vorhangwand gegenüber, links neben mir, steht ein die ganze Wand ausfüllender Spiegelschrank, aus dem mir momentan das gestresste Gesicht einer viel zu dünnen Frau entgegenblickt. Mein Gesicht.
Welche Dramen und Tränen hat dieser Raum in den letzten Jahren hier gesehen? Die Erinnerung lässt mich nicht los.
Nachdem ich nun festgestellt hatte, dass ich eine Mutter war, die jedes ihrer Kinder liebte, egal was mit dessen Vater war, schlief ich traumlos fest.
Am nächsten Morgen erwachte ich erleichtert, war fast heiter. Meine sowie des Neugeborenen Zukunft lag zwar für mich noch im Dunkeln, doch eines wusste ich, das Kind gehörte zu mir, komme was wolle. Ich hatte es mir nicht leicht machen wollen, oh nein! Bei dem Gedanken an eine Adoption hatte ich dem winzigen Menschenkind eine bessere Zukunft sichern wollen. Jetzt jedoch musste ich einsehen, dass es dafür auch durch mein Vorhaben keine Garantie geben konnte. Was wäre aus dem Kind geworden, wenn die Adoptiveltern sich hätten scheiden lassen? In diesem Fall hätte mein Baby entweder auch nur einen Elternteil für das weitere Leben gehabt, oder wäre gar von beiden verstoßen worden. Dafür, dass es in einer anderen Familie eine gesicherte Zukunft gehabt hätte, gäbe es niemals eine Garantie. Fröhlich rief ich den Herrn vom Jugendamt an und teilte diesem meinen Entschluss mit. Gegen meine Erwartungen machte er mir keine Vorhaltungen, er war nicht einmal erstaunt. Freundlich wünschte er uns für die Zukunft alles Gute, über die menschliche Anteilnahme und selbstlose Hilfsbereitschaft dieser Behörde war ich angenehm überrascht. Bedingt durch diese Erfahrung konnte ich gar nicht verstehen, warum die Allgemeinheit diesem Amt so feindselig gegenüber stand. Auch für mich hatte der Name Jugendamt immer einen misstönenden Klang gehabt. Jetzt war mir klar, dass ich ab sofort zu dieser Institution eine positive Einstellung vertreten würde. In meiner heiteren, gelösten Stimmung rief Franco an. Wie ein Überfall prasselten die Beschimpfungen über den freundlichen Sachbearbeiter auf mich herab. Franco wäre dort gewesen, habe diesen aufgefordert, sofort alles in die Wege zu leiten, damit er Franco, sein Kind zu sich nehmen könne. Das habe dieser dämliche Typ mit der Begründung abgelehnt, dass die Mutter des Kindes dazu ihre Zustimmung verweigern würde.
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