Dann wendet er sich zu mir, hebt die Hand zum Gruß und ruft über den Tisch hinweg: „Chefin, alles klar? Ich habe gehört, ’kleines Schweinchen’ ist nicht mehr hier. Dann kann man ja bei Dir mal in Ruhe ein paar Mark anschaffen!“
Geflissentlich überhöre ich die Anspielung auf Franco, mit dem er, obwohl sie Landsleute sind, immer verfeindet war. Freundlich lächelnd erwidere ich in der gleichen Lautstärke: „Meinst Du nicht, dass ich genügend Italiener zu ernähren habe? Du musst nicht unbedingt auch noch dazu gehören. Aber stell mal drauf. Dann werden wir sehen, wer anschafft.“ Alle Gäste lachen über meinen Scherz. Nur Klaus verzieht angewidert das Gesicht und wendet sich grußlos zum Gehen. Nachdem er die Hand zum Gruß gehoben hat, folgt Wilhelm. Der Dicke hat bessere Manieren.
Franz flüstert mir zu: „Was wollten denn die Beiden? Willst Du Prozente verkaufen? Das würde ich an Deiner Stelle nicht machen. Jetzt hast Du doch endlich mal die Chance in Ruhe ein paar Mark anzuschaffen. Wozu willst Du Dir Partner nehmen? Sei bloß nicht so voreilig! Warte doch erst mal ein paar Tage ab, wie es läuft. Jetzt, da Dir endlich niemand mehr reinreden kann, suchst Du gleich wieder neue Teilhaber. Ich verstehe Dich nicht. Was für Vorteile erhoffst Du Dir denn davon?“
„Das kann ich Dir sagen, Franz.“ sage ich ehrlich. „Entlastung sowie finanzielle Rückendeckung. Ich glaube, Du ahnst nicht einmal, wie schlecht es um meine Finanzen steht. Nur einen Größeren Verlust könnte ich mir schon nicht erlauben. Gestern Abend sah es durch den Tankwart schon bedenklich aus. Das halten meine angekratzten Nerven im Moment einfach nicht aus. Außerdem kann ich keine sieben Tage pro Woche arbeiten. Schließlich muss ich mich auch noch um mein Kind kümmern. Mindestens an zwei Wochentagen möchte ich mit der Kleinen Zusammensein. Da sie schon keinen vernünftigen Vater hat, soll sie wenigstens das Gefühl haben, dass ihre Mutter für sie da ist. Wenn ich das Geschäft alleine betreibe, habe ich zu wenig Zeit für sie. Ich weiß, dass Du um Deine Prozente fürchtest. Aber mach Dir darum keine Sorgen. Auch wenn ich einen Teil abgebe, werde ich dafür sorgen, dass Du noch zurechtkommst.“
Offensichtlich habe ich ihn nicht überzeugt, denn er versucht mich umzustimmen. „Arbeitsmäßig ist es nun wirklich kein Problem. Du hast doch hier genug Leute, zu denen Du Vertrauen haben kannst. Du kannst unbesorgt zwei Tage in der Woche frei machen. Wenn etwas Ungewöhnliches sein sollte, können wir Dich schnell anrufen. Du wohnst doch nur ein paar Meter entfernt. Und finanziell ist es ja nicht ganz so schlimm, wie Du sagst. Was wir an Kassenlage haben, weiß ich doch. Das muss man uns erst mal abnehmen. Dabei geht es mir nicht um mich. Aber ich finde, dass Du nach all den Jahren, in denen Du nur für diese beiden Ochsen geschuftet hast, die Dein Geld noch mit verpulvert haben, endlich mal nur für Dich arbeiten solltest. Ich bin davon überzeugt, dass Du das im Alleingang besser schaffst. Versuch es doch wenigstens erst mal, bevor Du Partner nimmst. Sei nicht so eilig. Lass Dir mehr Zeit!“
Seine eindringlichen Worte werden durch freudiges Gejubel der Spieler unterbrochen. Der lange, bärtige Italiener hat einen Volltreffer gelandet. Während der Gewinner völlig gelassen bleibt, jubeln alle anderen kleinen Spieler.
Das fehlt auch noch, denke ich. Dabei beobachte ich, wie Perücke die Jetons mit dem Rateaux auseinanderschlägt. Nachdem er die kleineren Gewinne ausgezahlt hat, beginnt er den großen Gewinnsatz zusammenzurechnen. Dann fragt er: „Dreizehnhundertzwanzig, Luigi. Wie hättest Du es gerne? Dreihundertzwanzig a fünf? Mit tausend groß?“ Erwartungsvoll sieht er den Angesprochenen an.
Kopfschüttelnd antwortet dieser: „Nein, gib mir nicht so viel Masse. Gib ein hundertzwanzig mit zwölfhundert.“
Mit undefinierbarem Gesichtsausdruck nimmt der Kölner ein Staubtuch, putzt den Kessel und verdreht dabei unauffällig den Zahlenkranz. Dann wirft er erneut die Kugel, jedoch diesmal in die andere Laufrichtung. Luigi grinst den Kessel-Croupier an und sagt: „Andere Richtung, Franz? Das macht nichts, ich habe Dich im Griff.“
Gelassen verteilt er seine Jetons auf insgesamt drei Zahlen. Dann wirft er dem Tisch-Croupier eine Hunderter-Platte hin, um zu wechseln. Als der die zwanzig Fünfer-Jetons erhalten hat, verteilt er davon noch einen Teil auf den schon gespielten Zahlen. Mit dem Rest deckt er den gegenüberliegenden Sektor ab.
Gespannt beobachtet nun der gesamte Saal nach der Absage: „Nichts geht mehr!“ die letzten Runden der Kugel. Tatsächlich trifft er ein zweites Mal. Diesmal nur eine Randzahl. Perücke errechnet den Gewinn. Fast fröhlich sagt er: „Sechs Plein sind siebenhundertzwanzig. Zweihundertzwanzig mit Fünfhundert?“ Diesmal nickt der Gewinner. Er bekommt vierhundvierzig Jetons a Fünf, und fünf Platten a Hundert angeschoben.
Ruhig an die Wand gelehnt bleibe ich neben dem Kölner stehen. Scheinbar gelassen (ich weiß, dass er sich ärgert) wirft der Bouleur die Kugel erneut ab. Die Nervenanspannung sieht man ihm nicht an.
Ich studiere die Gesichter der Leute. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Menschen auf die Spannung reagieren. Eines ist jedoch sicher, alle Gäste im Raum drücken für den Spieler. Es ist deutlich fühlbar, fast wie eine unsichtbare Mauer des Hasses gegen das Haus.
Neben mir sagt Franz leise: „Anschnallen, die Kugel hat Einlauf. Wird wieder ein volles Gedeck.“
Es ist mir ein Rätsel, wie er das jetzt schon beurteilen kann. Gerade hatte er erst die Absage gemacht, die Kugel muss noch mindestens vier Runden laufen. An der Mimik der Spieler sehe ich, dass sie genauso denken wie unser Kessel-Croupier. Es wird mir immer unbegreiflich bleiben, was die Leute da beobachten können. Wahrscheinlich bin ich die einzige Blinde im Saal. Ich kann das zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehen. Aufmunternd flüstere ich zurück: „Quatsch, wo der gespielt hat, kann die Kugel nie fallen.“
Franz erwidert: „Dein Wort in Gottes Ohr!“
Dieses Ohr war jedoch für mich verschlossen. Mit ein dem lauten Jubel der Menge begleitet, plumpst die Kugel in die Zahl, die am höchsten besetzt ist.
Verächtlich sage ich leise: „Daran siehst Du mal wieder, dass der Spruch: der Zocker wird von Gott verachtet, weil er nach fremden Geld trachtet, stimmt“.
Meinen Scherz beantwortet Franz nur mit einem müden, resignierten Lächeln. Diesmal wechseln achtzehnhundert Mark in Jetons den Besitzer. Nachdem er wieder die Kugel abgeworfen hat, knurrt Franz mir ins Ohr: „Hoffentlich ist der Lange nicht allzu gefräßig. Er liegt jetzt schon drei Mille vor. Muss der denn nicht gleich arbeiten?“
Auf seinen hoffnungsvollen, fragenden Blick entgegne ich: „Vielleicht hat der heute frei. Dann kann der Abend noch heiter werden. Wenn der so weiter gewinnt, gehen hier bald die Lampen aus. Wenn wir das Handtuch werfen müssen, hast Du schneller neue Chefs, als Dir lieb ist.“ Inzwischen sind einige andere Spieler mutig geworden und spielen dem langen Italiener hinterher. Das nächste Spiel kostet die Bank Zweitausendvierhundert. Frustriert fragt Franz: „Sollen wir mal einen Handwechsel versuchen? Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Er hat mich ja wirklich voll im Griff. Was meinst Du?“
Nickend winke ich der dicken Hilda, welche in diesem Moment an dem anderen Tableau ihre Kollegin Nina ablösen will. „Wir werden es mal mit der Dicken versuchen. Auf das Gepfeife von Perücke habe ich jetzt absolut keinen Bock.“ sage ich leise. „Komm Hilda, versuch Du mal Dein Glück. Nina muss noch etwas sitzen bleiben.“ rufe ich der Mitarbeiterin dann zu. Die Angesprochene kommt mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln auf uns zu. Obwohl sie den Eindruck erweckt, dass ihr meine Anweisung nicht passt, nimmt sie des Kölners Platz ein. Unauffällig greift sie, während sie mit dem Staubtuch durch den Kessel wischt, mit der anderen Hand unter den Tisch.
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