Sie packte ihn an den Schultern und zog, doch sein Bein klemmte fest und sie bekam es nicht los. Komm schon! Fluchte sie innerlich, das musste schneller gehen. Sie fand einen Stock, schob ihn unter die Maschine und presste mit aller Kraft dagegen. Sie konnte das Motorrad zwar nicht wirklich anheben, doch es verrutschte leicht. Das war genug, sie konnte den Fahrer unter dem Motorrad hervorziehen. Es war zwar unmenschlich anstrengend, aber es ging. Sie schleifte ihn so weit wie sie konnte, bis sie am Rande der Straße neben einem Baum zusammenklappte. Sie lehnte den Fahrer gegen den Baum und fühlte seinen Puls. Sie klappte den Schutz seines Helmes auf um zu sehen ob er irgendwelche Verletzungen im Gesicht erlitten hatte. Sie traute sich nicht seinen Helm ganz abzunehmen, falls er eine Gehirnerschütterung oder so hatte. Plötzlich stöhnte der Kerl, krümmte den Bauch und erlangte wieder das Bewusstsein.
„Kannst du mich hören? Bist du verletzt?“ fragte Emilia eindringlich.
Ein sehr kaltes, schwarzes Augenpaar sah sie an.
„Du?“ krächzte der Fahrer. Er blickte zurück und sah sein demoliertes Motorrad.
„Aber… aber warum hast du mich gerettet?“ fragte er mit kratziger Stimme. Emilia wusste nicht wieso aber er spie ihr diese Frage aggressiv ins Gesicht.
„Ich… Das hätte jeder getan!“ sagte sie verdattert.
Mit einer ohrenbetäubenden Wucht explodierte das Motorrad und beide fuhren hoch. Dann wandte er ihr wieder den Blick zu. Er stierte sie immer noch bösartig an, dann bekamen seine harten Augen einen anderen Ausdruck.
„Ich schulde dir was.“ Sagte er mit Grabesstimme, während die Hitze der Flammen, selbst bei der Entfernung, über ihre Gesichter leckte.
„Was? Nein…das war doch-“
Sirenengeheul schnitt ihr das Wort ab. man hatten den Unfall bemerkt. Der Junge sprang auf und wollte anscheinend verschwinden.
„Wo willst du hin? Du musst ins Krankenhaus!“ sagte Emilia und packte ihn am Arm.
Er sah sie abschätzig an. „Mir geht es gut und ich werde nicht auf die Polizei warten.“ Dann riss er sich ruckartig los und war einfach auf und davon.
Emilia hatte noch nie ein so undankbares Unfallopfer erlebt! Er sollte sich glücklich schätzen, dass er noch lebte. Sie ging einer Begegnung mit der Polizei aber lieber auch aus dem Weg. Sie hatte keine Lust in Erklärungsnot zu geraten und irgendwie auf das Thema Drogen zu sprechen zu kommen. Letztendlich hatte das dafür gesorgt, dass sie hier gelandet war. Dieser Teil der Straße hier war aber relativ weit weg vom Schlag. Zu den nächsten Siedlungen dauert es beinahe einundeinhalb Stunden zu Fuß. Man musste die vielen Hektar des Anwesens umgehen. Der einzige schnelle Weg, war der den sie genommen hatte; eben durch das Anwesen. Emilia hatte nicht vor, in ihrem Leben jemals wieder auch nur einen Fuß auf dieses Anwesen zu setzten. Also machte sie sich auf den Weg und betete inständig, dass ein Taxi ihren Weg kreuzen möge.
Weich, kuschelig und warm. Fast etwas zu warm, schon beinahe unangenehm. Etwas Staub wirbelte gut sichtbar durch die hereinfallenden Sonnenstrahlen. Emilia war am Rande des Erwachens. In der Phase in der man sich nicht sicher ist ob man träumt oder schon wach ist. Ein seltsamer Traum hing ihren Gedanken nach. Sie war durch einen zauberhaften Garten geflogen und hatte in furchtbar dunkle Augen geblickt. So dunkel wie die Nacht. Es war wie eine Erinnerung die langsam verblasste oder wie Wasser das man mit bloßen Händen auffangen wollte. Sie versuchte den Traum festzuhalten. Sie hatte so ein Gefühl, dass der Traum beängstigend, zugleich aber auch wahnsinnig aufregend und... schön war. Ihr Hals kratzte furchtbar und schmerzte. Er kratzte sosehr dass sich ihr Traum beinahe in einen Alptraum verwandelt, mit Nadeln, die ihr in die Kehle stachen und sie erstickten.
„EMILIA! Komm runter Schatz, du hast Besuch!“
Die Worte schossen zu ihr durch und wie auf Kommando riss es sie aus dem Schlaf. Verwirrt warf sie einen Blick auf die Uhr, es war elf Uhr vormittags. Sie hatte ziemlich lang geschlafen. Sie lag im Himmelbett in ihrem großen, hellen Zimmer. Weiße Möbel mit pastellfarbenen Akzenten zierten ihr Reich. Sie wollte sich richtig aufsetzten, als sie dieser furchtbare Halsschmerz durchfuhr, der in einem Hustenanfall endete. Die Erinnerung an letzte Nacht kam nach und nach zurück. Mels Dummheiten ärgerte Emilia, gleichzeitig sorgte sie sich um den Rotschopf. Moment mal..., wie war sie nach Hause gekommen? Verwirrt runzelte sie die Stirn. Die Morelli Villa! Nein, das musste ein Traum gewesen sein! Oder? Ok, erst war sie auf dem Debütanten Ball, dann auf Mels Party, dann... Ja was hatte sie dann eigentlich getan? Sie hatte sich mit Mel wegen der Drogen gestritten und dann...hm.
Ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte wie sie nach Hause gekommen war.
„EMILIA? Hörst du mich nicht?“ rief ihre Mutter ungeduldig aus dem Erdgeschoss.
Himmelherrgott, wer besuchte sie denn am Sonntagvormittag?
Das Kratzen in ihrem Hals ignorierend wollte sie rasch der Aufforderung ihrer Mutter Folge leisten und schlug die Decke beiseite. Emilia entfuhr ein entsetzter Laut. Ihr Bett war dreckig. Und zwar so richtig dreckig. Sie trug noch immer ihr Ballkleid. Ihr zerfetztes, schmutzverkrustetes, feuchtes Ballkleid. Ungläubig sah sie stocksteif an sich hinunter, und ihr kleines gestriges Abenteuer kehrte in voller Erinnerung zurück. Es war tatsächlich passiert! Sie hatte nicht geträumt. Aber... Aber wie war das möglich? Wenn sie so zurückdachte, war das was ihr passiert war, ziemlich verrückt.
Hektisch räusperte sich Emilia: „Ich komme gleich, ich zieh mir nur was an!“ krächzte sie heißer. Sie hatte Panik, dass ihre Mutter hoch kam um nach ihr zu sehen. Wie von einer Biene gestochen hüpfte Emilia auf, riss sich das Kleid vom Leib, zog das Bett ab, wischte Dreck vom Boden und stopfte alles in die unterste Lade ihres Schrankes. Sie würde das Zeug bei Gelegenheit entsorgen, das Kleid war sowieso nicht mehr zu retten. Hauptsache sie vernichtete die Beweise ihres Abenteuers. Sie wollte nicht erklären müssen was gestern passiert war. Die Terrino Kerle, Mels Drogengeschichte, und ihr unfreiwilliger Einbruch in das älteste Anwesen der Stadt. Nein es war besser ein paar Geheimnisse für sich zu behalten. Da erst bemerkte sie wie sie fröstelte und von einem Schüttelfrost gepackt wurde. Emilia hustete und zitterte was das Zeug hielt. Da sie so intelligent gewesen war sich mit nassen Kleidern ins Bett zu legen war sie jetzt aufs übelste erkältet. Tiefe dunkle Ringe zeichneten sich auf ihr fahles Gesicht. Geräusche aus dem Erdgeschoss drangen zu ihr hoch.
Ein paar Stimmen redeten miteinander, war das etwa Corrinn? Was machte die denn hier?
Emilia wickelte sich fest in eine Decke, ehe sie im Schneckentempo von ihrem Zimmer hinunter in die Küche ging. Die Villa der Familie Schwarz war sehr groß und hell, sie war im französischen Stil mit Elementen aus der Barockzeit und marmornen Böden.
Emilia ging die weitläufige Treppe hinab, vorbei an geschmackvollen Blumenarrangements im Foyer, hin zur Küche.
Emilia hatte sich tatsächlich nicht verhört, in der großen hellen Küche saßen im Sonnenlicht Corrinn und Alexander und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen bei zwei Tassen Kaffee.
"Leute, was macht ihr denn hier?" Fragte Emilia noch in der Tür stehend. Corrinn und Alex wanden gleichzeitig die Köpfe zu ihr.
„Lia! Deine Mutter hat uns reingelassen, wir-“ doch Corrinn wurde unterbrochen.
„Oha, wie siehst du denn aus?“ Kam es von Alex. Ganz der wahre Gentlemen.
Emilia bedachte ihn mit einem finsteren Blick: „Dir auch einen guten Morgen Alexander.“
„Wie war die Party gestern noch?“ fragte Emilia an Corrinn gewandt.
„Die Party! Deswegen sind wir hier! Wo zum Teufel bist du abgeblieben?“ fragte sie und erhob sich von ihrem Stuhl.
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