Heute morgen hat er unser notdürftiges Lager verlassen, um in der Umgebung nach Nahrung zu suchen. Ich denke nicht, dass er erfolgreich war. Zu Fuß ist es viel zu weit bis ins nächste Menschendorf. Unser Auto ist zerstört, verschüttet unter Tonnen von Gestein. Die V23er haben gute Arbeit geleistet und das gesamte Quartier dem Erdboden gleich gemacht. Fast das gesamte Quartier - bis auf diesen winzigen Hohlraum, der uns notdürftig vor unserem derzeit größten Feind schützt - dem Regen.
Während ich noch mich selbst und die ganze Welt verfluche, taucht Laytons kahl geschorener Kopf in der Felsspalte auf, wenig später zwängt er seinen schlanken Körper hinterher. Wir haben den Eingang notdürftig mit bloßen Händen erweitert, damit wir unsere Höhle überhaupt betreten konnten, doch trauten wir uns nicht, mehr Gestein als unbedingt nötig zu beseitigen aus Angst, der Bau könne uns über dem Kopf zusammenbrechen. Ich habe bei weitem die größten Schwierigkeiten, mich durch die Spalte zu quetschen, weil ich größer und breiter bin als Layton. Deshalb habe ich auch dankend darauf verzichtet, ihn auf die Jagd zu begleiten. Ich verlasse die Höhle nur, wenn es unbedingt nötig ist. Manchmal denke ich darüber nach, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, sich woanders eine neue Existenz aufzubauen. Es gibt genug verlassene Häuserruinen in der Gegend, alle binnen ein oder zwei Tagen zu Fuß zu erreichen. Leider sind die Regenpausen seit dem Überfall extrem kurz gewesen. Ich bezweifle, dass Layton weit gegangen ist. Seine Gesichtshaut ist gerötet und schuppt, er ist eindeutig nass geworden.
»Hast du etwas zu essen mitgebracht?« Sienna stürzt sich sofort auf ihn, fällt ihm um den Hals und küsst ihn auf den Mund. In solchen Momenten zuckt meine Faust, ich kann gar nichts dagegen tun. Wann bin ich bloß so ein hasserfüllter und verbitterter Kerl geworden? Oder sollte ich besser fragen: Wann habe ich angefangen, es zu bemerken?
Layton reibt sich über das Gesicht und lässt sich mir gegenüber an der Wand nieder, darauf achtend, die Pfütze zwischen uns nicht zu berühren.
»Nein, ich habe nichts mitgebracht. Es gibt nämlich absolut nichts in der Umgebung. Außerdem ist das Wetter immer noch schlecht.« So wie seine Laune, wenn man nach seinem Tonfall geht.
Sienna stößt ein missmutiges Winseln aus. »Ich habe Hunger! Wie sollen wir das Überleben? Zwei Tage ohne Nahrung! Selbst, wenn du einen Menschen gefunden hättest: Wir sind zu dritt ! Diese verdammte Maschine ist für immer verloren, wir können einen Menschen nur einmal benutzen.« Sie schlägt die Hände vor ihr Gesicht. »Wir müssen sterben.«
Es ist doch unglaublich, dass man auch nach Jahren noch immer neue Charakterzüge an anderen findet. Ich habe Sienna immer als eine kaltblütige, egozentrische und eingebildete Zicke erlebt. Sie jetzt so verzweifelt zu sehen, weckt beinahe mein Mitgefühl.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ein Acrai ohne Nahrung überleben kann. Ich habe es nie ausgereizt. Ich persönlich verspüre keinen Hunger. Nicht mehr, seit Holly mir ihre Emotionen geschenkt hat. Ich bin schlichtweg nicht mehr zwingend darauf angewiesen, mich von menschlichen Gefühlsregungen zu ernähren. Seltsamerweise knurrt mein Magen dennoch, aber ich habe das Gefühl, eher nach irdischer Nahrung zu lechzen als nach emotionaler. Einfach krank! Am Ende fange ich noch an, Brot zu essen ... Ich bin ein Wandler, einer jener Acrai, die vor Jahrtausenden auf die Erde gekommen sind und aus deren Blut die nachfolgenden Acrai hervorgegangen sind - ich habe schon viel erlebt und viel gesehen. Aber das ist sogar für mich absolut neu. Ich habe mich noch immer nicht an die veränderte Lebenssituation gewöhnt. Ich kannte keine Gefühle. Bis vor einer Woche. Seitdem glaube ich, reicher an Erfahrungen geworden zu sein als in all den Jahrhunderten zuvor.
Layton kaut auf seiner Unterlippe herum. Ebenfalls ein Zug, den ich von ihm nicht kenne. »Sienna hat recht. Früher oder später werden wir hier verrecken. Ich gehe lieber durch den Regen als noch länger hier zu bleiben.« Er hebt den Blick und sieht mich an. »Was sagst du dazu?«
Hat er mich gerade tatsächlich nach meiner Meinung gefragt? Layton, der mich hasst wie die Pest? Ich räuspere mich. »Wir könnten versuchen, einen anderen Unterschlupf zu finden. Mit einem Auto könnten wir schneller ein Dorf erreichen, aber auch zu Fuß müsste es zu schaffen sein.«
»Und dann?« Siennas Stimme klingt schrill. »Wir sind alle schwach. Was, wenn es uns nicht gelingt? Außerdem ist das keine Lösung für unser Problem. Wir hätten zwar ein neues Dach über dem Kopf, aber noch immer keine Nahrung.«
Nun, da hat sie recht. »Wir könnten uns auch einfach gegenseitig erwürgen oder anderweitig den Freitod wählen.«
Es war als Scherz gemeint, aber Layton knirscht so heftig mit den Zähnen, dass es mir in den Ohren weh tut. Sein Blick glüht vor Zorn. »Eine wunderbare Idee! Am besten fangen wir gleich mit dir an.«
Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und fahre mir durch die Haare. Wir hatten uns gefreut, das Inferno überlebt zu haben. Gewonnen haben wir dadurch nichts. Nur verloren. Erst unser Quartier, dann Holly, dann vielleicht unser Leben. Macht es überhaupt einen Sinn, weitermachen zu wollen? Für mich vielleicht, denn ich werde alsbald nicht an Nahrungsmangel sterben. Und überhaupt - sterben kann ich als Wandler im eigentlichen Sinne gar nicht, es sei denn, jemand verbrennt den Körper, den ich gerade bewohne. Sollte ich verhungern, wird mein Geist einfach in einen anderen jungen Kerl schlüpfen. Ich habe nie gewusst, wer meinen heutigen Körper vor mir bewohnt hat, ob er Familie hatte oder Freunde. Ich habe mir auch nie Gedanken darüber gemacht. Er ist auf jeden Fall einer der attraktivsten, die ich je erwischt habe. Manchmal würde ich Layton gerne an den Kopf knallen, wer oder was ich wirklich bin, nur, um seine verdutzte Miene zu sehen. Was hält mich eigentlich davon ab? Das Quartier ist verloren - wozu noch den alten Mummenschanz mitmachen und vortäuschen, ein niederer Acrai zu sein? Alles, was mich davon abhält, mich zu offenbaren, sind diese schrecklichen Wandler-Gesetze, auf die ich keine Lust habe. Ich bin nicht erpicht darauf, hunderte Nachkommen zu zeugen und mich auf einen Thron zu erheben. Uuuh, allein der Gedanke daran ...
»Wir könnten versuchen, Unterschlupf bei einer anderen Sippe zu finden«, sage ich schließlich. »Über kurz oder lang wird nur das unser Überleben sichern.« Ich gebe es nicht gern zu, aber es ist die Wahrheit.
»Eine andere Sippe? Wo sollen wir die finden? In der Nähe gibt es keine Acrai außer uns!« Sienna funkelt mich nun ebenso böse an wie Layton.
»Maureen kam aus Albany. Dort gibt es die größte Acrai-Sippe im Staat.«
Maureen ... Das verdammte Weib, welches das Gesetz für mich ausersehen hatte, mit ihr die nächste Generation zu sichern. Wäre mir Holly nicht in die Quere gekommen, hätte ich den Gedanken gar nicht so abwegig gefunden. Maureen war ein wunderschönes Mädchen gewesen. War , wohlgemerkt. Ihr toter Körper liegt noch immer irgendwo da draußen vor dem Quartier und zersetzt sich im Regen.
»Albany ist einhundertzwanzig Meilen von hier entfernt! Hast du den Verstand verloren? Wie sollen wir dorthin kommen?« Layton sieht mich an, als sei ich geisteskrank. Und vielleicht bin ich das sogar.
Erst jetzt wird mir richtig bewusst, welche Tragweite das Unternehmen hätte. Es fällt mir schwer, New York City zurückzulassen - wegen Holly. Ob sie schon in eine von den Genmutanten verwandelt wurde? Ob sie mich vergessen hat? In mir schlummert noch die Hoffnung, Holly könnte immun gegen ihr widerliches Serum sein, immerhin hat sie auch nicht als Nahrungsspenderin getaugt. Dieser Gedanke zieht einen nächsten, viel unangenehmeren nach sich. Die V23er würden nicht zögern, unbrauchbare Menschen zu entsorgen. Ich traue Holly genug Grips zu, dass sie das begriffen hat und sich schützt. Entweder ist sie geflohen, oder sie findet einen Weg, unauffällig zu bleiben.
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