Narcia Kensing
Sadie
Ein Hauch von Ewigkeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel Narcia Kensing Sadie Ein Hauch von Ewigkeit Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Impressum neobooks
Hätte mich meine gute Erziehung nicht daran gehindert, wäre ich nur in Unterwäsche bekleidet in die Stadt gefahren. Nicht, dass es mich reizen würde, immer und überall Aufsehen zu erregen (obwohl ich es dennoch meistens tue), aber die Temperaturen sind derart unerträglich, dass ich mein Shirt als schiere Folter empfinde. Es klebt an Bauch und Rücken, meine Jeans fühlt sich drei Kleidergrößen zu eng an. Schweiß rinnt meine Schläfe hinab und meine Nikes quietschen bei jedem Tritt in die Pedale. Man sollte meinen, dass ich mich innerhalb meines achtzehnjährigen Lebens an die mörderischen Sommer im Landesinneren von Mississippi hätte gewöhnen müssen, aber ich habe es bis heute nicht geschafft, mit dem subtropischen Klima Frieden zu schließen. In der High School haben sie mich deshalb oft ausgelacht. Als Dunkelhäutige - und ich zitiere hier absichtlich nicht das Wort, das sie für mich verwendeten - sollte ich mit heißen Temperaturen doch umgehen können. Ich frage mich bis heute, was die Hautfarbe mit der Affinität zu mörderischer Hitze zu tun haben soll.
Die Wärme ist jedoch nicht das Schlimmste. Als wesentlich unangenehmer empfinde ich die Luftfeuchtigkeit. Ich hatte gehofft, dass sich das Wetter nach dem Sturm beruhigen würde, aber da habe ich mich anscheinend getäuscht. Es ist immer noch drückend heiß und ebenso unerträglich wie vor zwei Tagen.
Nur noch ein paar hundert Yards, dann habe ich den Heimweg endlich hinter mich gebracht. Meine Einkäufe klappern im Fahrradkorb: Batterien, Kerzen und eine nagelneue LED-Taschenlampe aus dem örtlichen Minimarkt. Meine Großmutter hat darauf bestanden, dass ich die Sachen noch heute Vormittag besorge, dabei ist der Strom seit gestern Abend schon wieder da. Aber wie könnte ich meiner Grandma einen Wunsch abschlagen! Sie ist noch sehr rüstig und hinter ihren dunklen Augen blitzt ein gescheiter Verstand, aber manchmal legt sie ein wenig schrullige Eigenschaften an den Tag.
»Vorsichtshalber«, hat sie gesagt. »Man kann doch nie wissen, wann der Strom das nächste Mal ausfällt.«
Anscheinend haben das noch eine ganze Menge anderer Leute so gesehen, denn der Minimarkt war wie leer gefegt. Ich kann von Glück reden, noch zwei Kerzen ergattert zu haben. Es ist ja nun nicht so, dass in den Spätsommermonaten nicht des Öfteren Stürme über diesen Staat hinwegfegen würden! Das erinnert mich an Weihnachten, das für einige Leute jedes Jahr ziemlich überraschend hereinbricht, sodass sie einen Tag vorher einkaufen, als würden die Geschäfte fortan nie wieder öffnen. Natürlich haben meine Grandma und ich vorgesorgt, in unserem Keller stapeln sich Kerzen und Batterien bis unter die Decke, aber mit einer alten sturen Dame zu diskutieren hat ebenso wenig Sinn wie einem Zweijährigen die Relativitätstheorie nahebringen zu wollen.
Ich fahre weiter die Hauptstraße hinab, die zum Fluss hin stetig abfällt. Jetzt muss ich zumindest nicht mehr in die Pedale treten und der Fahrtwind kühlt meine klitschnass geschwitzten Klamotten ein wenig. Unser kleines Städtchen liegt auf einer Anhöhe direkt am Ufer des Mississippi, meine Grandma und ich wohnen am Stadtrand, nicht weit von den Schiffsanlegern entfernt, von wo aus jedes Jahr Touristen in Scharen mit Schaufelraddampfern in das ultimative Südstaatenabenteuer aufbrechen.
Ich biege in die Bowman Street ein, von wo aus der schmale Weg hinauf zu unserem Haus abzweigt. Es ist nicht die teuerste Gegend der Stadt, aber bei weitem auch nicht die schlimmste. Hier leben überwiegend Afroamerikaner in bescheidenen kleinen Reihenhäusern, die meisten davon in Eigenregie selbst errichtet. Einige unserer Nachbarn haben sich im Laufe der Jahre wirklich schöne Domizile geschaffen, schnuckelige Häuschen mit Holzveranda und sorgsam gepflegten Vorgärten, Südstaatenflair pur. Leider sind viele dieser Häuser keine statischen Meisterwerke, was deren Bewohner jeden Spätsommer, wenn die Stürme mal mehr, mal weniger heftig wüten, zittern lässt. Der Sturm vor zwei Tagen zählte noch längst nicht zu einem der stärksten, dennoch liegen überall auf der Straße abgefallene Äste, Bretter und jede Menge anderer Plunder, der durch die Gegend gewirbelt wurde. In einigen Gärten stehen ganze Heerscharen von Menschen (die Leute in diesem Viertel pflegen in großen Familien zu leben), die Hände vor die Gesichter geschlagen und die Köpfe fassungslos schüttelnd. Manche Häuser hat es arg mitgenommen, einige verzeichnen lediglich Schäden an den Schuppen und Vorbauten.
Schon von weitem sehe ich ein junges Paar auf der Veranda eines noch recht neu aussehenden Hauses stehen. Sie diskutieren wild gestikulierend. Im oberen Stockwerk haben sich die Fensterläden gelöst, vielleicht ist dies das Streitthema. Nur wenige Yards entfernt dreht ein kleiner Junge von vielleicht drei Jahren seine Runden mit dem Dreirad um einen der Bäume, um die der Gehsteig drum herum gepflastert wurde. Seine Eltern schenken ihm keine Aufmerksamkeit. Der Kleine macht einen glückseligen und unbeschwerten Eindruck. Er scheint völlig darin aufzugehen, mit seinen dürren kurzen Beinchen in die Pedale zu treten.
Als ich mich mit dem Fahrrad nähere, hebt er den Kopf, hält inne und grinst mich an. Seine kleinen weißen Zähne blitzen hell in seinem dunklen Gesicht hervor.
Genau das ist der Augenblick, als es wieder einmal passiert.
Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, quietschend zu bremsen und vom Rad zu springen. Meine Gedanken ziehen sich zusammen, als hätte man mir einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gegossen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen armdicken Ast, der sich aus der Krone der Eiche löst und gen Boden rast. Er erwischt den kleinen Jungen genau am Kopf und reißt ihn von seinem Dreirad. Das Kind schlägt hart auf den Pflastersteinen auf und bleibt reglos liegen. Mir bleibt die Luft weg und ich muss mich zusammenreißen, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich schüttele mich wie ein nasser Hund, ehe es mir endlich gelingt, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.
Neben mir auf dem Gehsteig liegt mein Fahrrad, der kleine Junge grinst mich immer noch an, es ist kaum eine Sekunde vergangen. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe in die Baumkrone hinauf. Keine drei Atemzüge lang habe ich jetzt noch Zeit, das weiß ich aus Erfahrung. Schon höre ich es verdächtig über mir krachen. Ich mache einen Satz nach vorne und schiebe den Jungen samt Dreirad einen Yard an die Seite, sodass der Ast auf den Boden schlägt, ohne jemanden zu verletzen. Gerade noch geschafft! Nie war ich so froh über mein seltsames Talent, das sich nur in unzuverlässigen Intervallen meldet. Ich werfe einen Blick zu dem Pärchen auf der Veranda, doch die beiden haben das Drama überhaupt nicht bemerkt, das sich hinter ihrem Rücken abgespielt hat. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb man sein Kind nicht im Auge behält. Ich streiche dem Kleinen noch einmal über den Kopf, nehme mein Fahrrad vom Boden auf, sammle die aus dem Korb gefallenen Kerzen auf und schwinge mich wieder auf den Sattel.
Keine zwei Minuten später erreiche ich die Auffahrt zu unserem Haus. Der Weg weist tiefe Schlaglöcher auf, sodass ich absteigen und schieben muss. Wir hätten ihn längst reparieren lassen müssen, aber dazu fehlte immer das Geld. Es gibt Wichtigeres als eine schöne Auffahrt.
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