»Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle. Es muss etwas beängstigend auf Sie wirken.« Seine Stimme klingt freundlich. Das muss man ihm lassen. Aber ich bin nicht naiv genug, um mich davon beruhigen zu lassen. Stattdessen ziehe ich die Augenbrauen nur noch weiter zusammen.
»Darf ich »Du« sagen, Sadie? Ich heiße Joey Beaver.« Er streckt mir seine Hand entgegen. Glaubt er, dass ich sie schüttele? Ich starre nur darauf, als hätte er mir etwas Ekliges unter die Nase gehalten, rühre mich jedoch nicht. Joey - sofern das sein richtiger Name ist - zieht die Hand wieder zurück.
»Ich habe nicht vor, dich zu belästigen.« Er lächelt entschuldigend.
»Tust du aber«, presse ich hervor. »Macht es dir Spaß, junge Frauen zu stalken? Woher kennst du meinen Namen?«
Mein Blick irrt kurz zu der Dame am Schalter, aber sie ist gänzlich in ihre Zeitschrift vertieft. Wir sitzen zu weit entfernt und sprechen zu leise, als dass sie etwas von unserem Gespräch mitbekommen könnte.
»Es muss ein wenig befremdlich auf dich wirken, dass ich deinen Namen kenne. Ich dachte, das schlägt vielleicht eine Brücke zwischen uns.«
Brücke? Hat er sie noch alle? Was will er von mir?
»In der Tat, es ist befremdlich. Hast du mir damals im Blue Moon auch schon aufgelauert?«
Er nimmt die Handflächen entwaffnend hoch. »Nein, das war reiner Zufall. Du bist mir nur gleich aufgefallen wegen deinem besonderen Auge.«
Aha. Daher weht der Wind. »Und du dachtest, dass du der Sache auf den Grund gehen müsstest? Hältst du mich für eine Außerirdische?«
»Keinesfalls. Nur für etwas ganz Besonderes.«
Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen hoch, verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich im Stuhl zurück. »Ist dir klar, dass weiße Männer nicht gerade auf Anerkennung stoßen, wenn sie sich mit farbigen Frauen umgeben? Wo auch immer du herkommst: In Mississippi weht ein anderer Wind.«
»Zu deiner Information: Ich stamme gebürtig aus Vicksburg, habe meine Jugend jedoch in Chicago verbracht. Und nein, ich habe kein erotisches Interesse an dir. Obwohl ...« Er hebt neckisch eine Augenbraue. »Hässlich bist du ja nicht. Und es wäre mir ehrlich gesagt auch egal, ob ich eine farbige Frau gegen mein Umfeld verteidigen müsste.«
Hat er das etwa ernst gemeint? Falls ja, ist er gerade ein ganz kleines bisschen in meinem Ansehen gestiegen. Aber dennoch bin ich nicht dämlich genug, mir von einem Wildfremden Honig ums Maul schmieren zu lassen.
»Und was willst du sonst von mir? Und verdammt - woher weißt du, wie ich heiße? Du hast mir meine Frage noch immer nicht beantwortet.« Ich bin ein bisschen laut geworden, sodass die Dame am Schalter mir einen kurzen verärgerten Blick zuwirft. Joey und ich sind außer ihr die einzigen Besucher der Bibliothek, wen sollten wir also stören? Ich verbrenne sie meinerseits mit einem zornigen Blick. Sie soll ihre blöde Zeitschrift lesen und mich laut werden lassen, wann ich will!
Joey sieht nach rechts und links, als befürchtete er, jemand könne und beobachten. Aber hier ist niemand weit und breit. Er greift in die Gesäßtasche seiner Jeans und zieht ein abgegriffenes altes Farbfoto heraus. Er legt es auf den Tisch und schiebt es mir zu, als befänden wir uns in einem polizeilichen Verhör. Sein Blick passt dazu. Ich erwarte, dass er mich jeden Moment fragt, wo ich gestern gegen achtzehn Uhr gewesen bin, oder so ähnlich.
Ich werfe einen Blick auf das Foto, ohne es zu berühren. Es zeigt das Portrait einer jungen Frau, vielleicht in meinem Alter. Sie kommt mir nicht bekannt vor. Die hellblonden, fast weißen Haare wären mir sofort aufgefallen, käme sie aus Vicksburg. Ihre Augen sind wasserblau, die Haut blass. Sie wirkt ein wenig geisterhaft.
»Wer ist das?«, frage ich.
»Du wirst sie nicht kennen.« Joey tippt auf ihr rechtes Auge. »Aber sieh doch mal genau hin!«
Tatsächlich. Das rechte Auge des Mädchens ist nicht hellblau, sondern silberfarben wie meines. Ein kurzer Schreck durchfährt mich. Ist sie etwa mit mir verwandt? Wohl kaum. Sie ist so hell wie eine Kalkleiste und ich bin dunkelhäutig.
»Was hat das zu bedeuten?« Ich muss zugeben, dass er mein Interesse geweckt hat. Ich habe mein Auge immer für eine Laune der Natur gehalten. Ist es vielleicht auch. Aber dass noch andere mit diesem Merkmal herumrennen, verwundert mich. Möglich, dass es ein Gendefekt ist. Aber immer noch kein Grund, mir nachzustellen und mich damit zu belästigen.
»Das Foto ist über zwanzig Jahre alt«, sagt Joey. »Es stammte aus dem Nachlass meiner Mutter.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Lange Geschichte und momentan auch noch nicht von Bedeutung. Es gab einst eine Familie, in der das Merkmal regelmäßig auftrat, das ist die Familie dieser jungen Dame. Man nahm an, dass es einzig an diese Familie gebunden ist. Es lebt aber kein Nachfahre mehr, und diese Dame hier ist seit zwei Jahrzehnten verschwunden.«
» Man ? Wer nimmt hier was an?« Ich kann ihm nicht folgen und fahre ihm über den Mund.
Joey stößt die Luft pfeifend durch seine Zähne aus. »Diejenigen, die in die Gabe eingeweiht waren. Wenn es dich wirklich interessiert, kann ich dir die ganze Geschichte erzählen. Aber nur, wenn du mir im Gegenzug hilfst.«
»Helfen? Sprich doch nicht in Rätseln! Ich verspreche dir überhaupt nichts! Ich hab keine Ahnung, was genau du von mir willst.«
»Eines nach dem anderen! Als ich dich im Blue Moon gesehen habe, hat mich fast der Schlag getroffen. Ich wusste nicht, dass die Gabe auch außerhalb der Familie Boothman auftreten kann. Du könntest meine letzte Hoffnung sein. Jedenfalls war es nicht schwierig, deinen Namen herauszufinden, um deine Frage endlich zu beantworten. Die Kellner im Blue Moon kennen dich, du scheinst ja öfters dort zu sein. Sie haben mir zwar nicht gesagt, wie du heißt, aber woher du kommst und wie alt du bist. Keine Adresse, versteht sich, die Leute dort sind diskret. Aber hier in Vicksburg gibt es nur eine High School, und da du dem Alter nach dieses Jahr deinen Abschluss gemacht haben müsstest, war es auch nicht schwer, Einsicht ins Jahrbuch der Schule zu erlangen. Und das ist auch schon die ganze Geschichte.«
»Und du bist sicher, dass du kein irrer Stalker bist?« Langsam verliere ich die Geduld. »Und ich wüsste zu gerne, von welcher Gabe zu sprichst.«
»Ich bin garantiert kein Stalker. Nur sehr verzweifelt, weil du die einzige sein könntest, die mir weiterhelfen kann. Im Übrigen nennt sich die Gabe Zeitspringen .«
»Zeitspringen? Ach, du bist doch bescheuert! Lass mich bloß in Ruhe.« Ich schiebe meinen Stuhl geräuschvoll zurück und stehe auf. Ich habe wirklich die Nase voll von dem Quatsch. »Ich muss jetzt gehen, meine Grandma wartet mit dem Hausputz auf mich. Und stelle mir bloß nicht mehr nach!«
Ich will mich abwenden, aber Joey gibt noch nicht auf. »Hast du nie bemerkt, dass du ein besonderes Verhältnis zur Zeit hast? Voraussicht? Hellseherei? Irgendetwas?«
Ich mache eine abwertende Handbewegung, ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen, obwohl ich zugeben muss, dass mich seine Worte irritieren. Natürlich habe ich schon seltsame Erfahrungen mit solcherlei Dingen gemacht. Gerade vor ein paar Minuten erst wieder, als Joey hereinkam. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Als ich nach der Türklinge greife, spüre ich Joeys Hand auf meiner Schulter. Nicht fest, aber doch bestimmt. Mit einem verärgerten Knurren drehe ich mich widerwillig noch einmal zu ihm um. Er streckt mir eine Karte entgegen.
»Nimm meine Visitenkarte. Überleg dir bitte, ob ich dir nicht doch noch mehr über das Zeitspringen erzählen soll. Ich habe nämlich das Gefühl, dass dir das Thema nicht gänzlich unbekannt ist. Ruf mich an, wenn du magst. Und ich verspreche dir, ich werde dich nicht mehr belästigen.«
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