Der erneute Rausch endete jäh mit dem Absinken des Blutzuckerspiegels, zurück auf dem kalten, harten Küchenboden des einsamen Hauses in der Finsternis der Nacht. Er entschloss sich, Lena zu suchen. Sollte der Zuckeranteil weiter fallen, würde ihn die Verzweiflung antreiben.
Walter öffnete die Augen. Es war mitten in der Nacht und jemand hämmerte an seine Wohnungstür. Er lag im Ehebett, neben sich hatte er Bertha auf ein Kissen gebettet. Griffbereit leistete ihm der Revolver Gesellschaft. Das Hämmern hörte nicht auf. Widerwillig schnappte er sich Bertha mit der funktionsfähigen Hand und trabte aus dem kleinen Schlafzimmer, in dem lediglich das alte Holzgestell mit einer vergilbten Matratze Platz fand. Ein langes Nachthemd bedeckte den faltigen Körper, inklusive des Gipsarms, den man als Relief unter dem Stoff erkennen konnte. Die schmale Wohnung hatte er in völliger Dunkelheit schnell durchquert. Allzu viele Hindernisse gab es nicht.
Vor der Wohnungstür machte er Halt. Das Hämmern hatte zwar aufgehört, doch er konnte jemanden schnaufen hören. Bertha ruhte in seiner Hand. Er übte kurz, wie er den Zeigefinger einknicken müsste, um den Abzug zu betätigen. So leise wie möglich spannte er den Hahn des Revolvers mit dem Daumen. Auch das fiel ihm mit der ungeübten Hand schwer.
»Walter?«, hörte er jemanden flüstern. Anscheinend war das Spannen des Hahnes lauter als gedacht, in dieser stillen Nacht.
»Walter?«, fragte die Stimme etwas lauter.
Jetzt wusste Walter, wer sich da an seiner Tür zu schaffen gemacht hatte. Erleichtert öffnete er.
»Max? Was tust du hier?«
Max sah so aus, als wäre er über Stock und Stein gerannt und hätte ein paar Pfützen trocken gelegt. Er kauerte vor der Tür wie ein Häufchen Elend.
»Lena ist verschwunden!«, klagte er gepresst.
Walter musste innehalten. Er kannte Max noch nicht sehr lang und wusste eigentlich gar nichts über ihn, außer, dass er meistens recht wortkarg wirkte. Er vermutete einfach, dass es sich um ein enges Familienmitglied handelte. Anhand des Zustandes seines jungen Kollegen und der Uhrzeit tippte Walter auf dessen Ehefrau, denn die Frage nach einer Vermählung hatte Max bejaht. Walter zog ihn auf die Füße und in die Wohnung, damit er die Tür schließen konnte. Die luftigen Einblicke des Nachthemdes wollte er nicht außerhalb der eigenen Wände teilen.
»Erzähl mir was passiert ist.« Er entzündete ein paar Kerzen und holte dem Jungen einen Schluck Wasser. Dabei zog er die Vorhänge zu. Durch den Kerzenschein hätte man ihn sonst von draußen beobachten können. Das Nachthemd bedeckte nicht immer alles und er hatte keine Kontrolle darüber.
Max stierte zu Boden. »Als ich nach Hause kam, war sie verschwunden. Ohne einen Hinweis. Es fehlt auch nichts. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst.« Er spülte den Staub in seiner Kehle mit dem Wasser herunter. »Ich suche schon seit ein paar Stunden, aber ich habe nichts gefunden.«
Walter schlüpfte in Socken sowie Hose und holte sich eine Jacke. »Ist das schon einmal passiert?«
Max verneinte.
»Ist irgendetwas vorgefallen?«
Wieder verneinte der verzweifelte Strohwitwer, aber ein nüchterner Augenkontakt offenbarte die Lüge.
»Du musst es mir nicht erzählen.« Walter streifte sich die Jacke über. »Wo hast du schon gesucht?«
Max bremste ihn, indem er gekrümmt sitzen blieb und ihm den ausgestreckten Arm mit nach oben gerichteter Hand samt aneinanderliegenden Fingern zeigte. »Warte!« Er holte tief Luft. »Es ist etwas passiert. Vor ein paar Tagen.«
Walter erkannte die Trächtigkeit in Aussage und Körpersprache. Er setzte sich empfänglich.
»Wir haben unser Kind verloren«, wisperte Max, »Es wurde uns geraubt. Jemand hat Hand an Lena gelegt. Es war alles voller Blut.« Er sah erschrocken auf.
Gefasst nahm Walter die Neuigkeit entgegen. Er hatte schon so viel gesehen und gehört, dass er diesbezüglich ein wenig abgestumpft war. Immerhin kannte er nun den Grund, warum der junge Konstabler Gespräche mied und weshalb ihn Gewalt so anzog. Gewisse Ereignisse können ungeheuren Groll erzeugen, mitunter sogar das Wesen verändern oder gefährlich spalten.
»Ich habe seitdem nicht mehr mit Lena gesprochen. Die Tage gingen ins Land. Während ich irgendwie den Dienst hinter mich gebracht habe, schloss sie sich zuhause ein und ertränkte ihren Kummer in«, Max zögerte, »Limonade. Ich suche nach einem Weg, aber ich finde keine Antworten. Und der Zorn wächst.«
»Verständlich«, stimmte Walter zu, die Information mit dem Verstoß gegen den Beschluss Z wo-Sieben-Zwo übergehend. Flüchtig schaute er unter ein Regal, wo hinter den schmutzigen Polizeischaftstiefeln mehrere Flaschen mit blumigem Etikett auf Verzehr warteten. »Wir können in der Direktion eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
Max suchte Blickkontakt. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Jede Minute fühlt sich an wie die letzte für sie. Eine Faust umschließt mein Herz und drückt zu. Wir müssen sie finden!«
Walter wägte ab. »Du hast Recht. Bis die Maschinerie anläuft, vergeht zu viel Zeit. Wer hilft uns?«
Ein leerer Blick war Antwort genug.
»Gut, dann wir zwei«, beantwortete Walter seine eigene Frage, als ihm etwas einfiel. »Wobei, eine Gefälligkeit könnten wir noch einfordern. Nach der Aktion heute ist uns Edegard Nessel noch etwas schuldig. Je mehr Leute wir rekrutieren, desto eher finden wir eine Spur.«
Riesige Buchstaben erhellten die Nacht: Inferno . Schon von weitem konnte man den rötlich flackernden Schriftzug aus hunderten Glühbirnen erkennen, der eine magische Anziehungskraft besaß, wie Speck für Maden. Zwei taghelle Scheinwerfer strahlten vom Dach gen Himmel. Hoch oben über der Stadt kreuzten sich die gebündelten Lichtstrahlen, bevor sie in der Wolkendecke verschwanden. Der Klub Inferno befand sich im Zentrum von Neu-Berlin. Das flache, eingeschossige Gebäude beanspruchte ein von vier Straßen umschlossenes Flächenquadrat für sich. Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs und ein großzügiger Parkplatz sorgten für beste Voraussetzungen, den Klub mit tanzwütigen, durstigen Menschen zu füllen.
Saxophon und Trommeln dröhnten nach draußen; der Kontrabass brachte den Boden zum Schwingen. Vorm Klub hielten ein paar düstere Gestalten Wache. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten sich mehrere Polizeifahrzeuge positioniert. Die Beamten machten aber einen entspannten Eindruck. Höflich grüßten sich Gesetzeshüter und Türsteher, ohne gegenseitigen Argwohn zu schüren.
Im Klub herrschte Trubel. Die Meute auf der vollen Tanzfläche glich einem Volk Dohlen, wild und unabhängig flatternd, aber dennoch als Schwarm auftretend. Konfetti und Seifenblasen heizten der Meute ein, die sich mit epileptischen Bewegungsmustern den Klängen hingab, die von der mehrköpfigen Kapelle orchestriert wurden. Die Tische an den Rändern der Tanzfläche waren restlos belegt. Klatschend begleiteten die sitzenden Gäste ihre Artgenossen beim Steppen. Auf den Tischen standen Gläser mit goldenem Sprudelwasser. Die ausgelassene Stimmung basierte größtenteils auf dem tolerierten Zuckerkonsum. Der Klub Inferno zählte zum rechtsfreien Raum. Paradoxerweise waren Produktion, Einfuhr, Verkauf und Verzehr von Limonade seit dem Beschluss untersagt. Einzig im besagten Etablissement war es gestattet, zu kaufen und zu verzehren. Wie der Stoff dorthin gelangte oder wo er her kam, wollte aber niemand wissen. Die Laderampe des Klubs war jedenfalls immer nur nachts frequentiert und der Kellerbereich, der noch einmal so groß war wie der Klub darüber, wurde streng bewacht. Selbst die Exekutive traute sich nicht in die Niederungen des Infernos . In zivil traf man aber Beamte aus allen Schichten von Exekutive, Judikative und Legislative an den Tischen und auf der Tanzfläche an.
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