Mit Nourilly konnten sie nach der Landung nicht sofort sprechen. Er war wie gewöhnlich um halb zehn Uhr in einer Besprechung mit dem Präfekten. Ewen versuchte Nourilly zu sprechen, nachdem er seine Schuhe und noch ein paar Kleinigkeiten aus seiner Wohnung geholt hatte. Er wollte mit ihm klären, wie sie den Hubschrauber nutzen konnten. Sie brauchten ihn bestimmt noch viele Male. Bei jeder neuentdeckten Spur musste Dustin vor Ort sein. Es würde ein Hin und Her werden und die Flugkosten deutlich nach oben treiben. Das Gespräch würde schwierig werden, denn sein Chef pochte beständig auf die Einhaltung eines möglichst niedrigen Kostenlimits.
Ewen betrat das Büro von Nolwenn Meunier, Nourillys Sekretärin. Eine bildschöne Frau, stellte er bei ihrem Anblick jedes Mal erneut fest.
„Bonjour Nolwenn, ist der Chef zu sprechen?“
„Klar, Monsieur le commissaire, er hat keinen Besuch, der Präfekt ist bereits gegangen.“
Ewen klopfte an die Tür und trat ein.
„Bonjour, lieber Kerber, was führt Sie zu mir?“
„Bonjour, Monsieur Nourilly, ich möchte mit Ihnen über den jüngsten Fall auf Ouessant sprechen. Wir werden bei der Aufklärung des Verbrechens häufig den Hubschrauber benötigen. Ich weiß, dass Sie ein strenges Auge auf die Kosten haben, deshalb will ich mich vergewissern, dass der häufige Einsatz mit Ihrer Zustimmung erfolgt.“
„Mein lieber Monsieur Kerber, wir sind doch auf Bitten der Kollegen aus Brest dort. Damit können wir diese Kosten dem Kommissariat von Brest in Rechnung stellen. Das habe ich schon längst geklärt. Setzen Sie den Hubschrauber ein, so oft Sie ihn brauchen.“
Eine seltsame Form von Großzügigkeit, Nourilly interessierten die Kosten scheinbar nur, wenn sie sein Kommissariat betrafen.
„Dann bedanke ich mich bei Ihnen. Das ist auch schon alles.“ Ewen wollte sich bereits zur Tür drehen und das Büro verlassen.
„Monsieur Kerber, wie geht es denn voran? Berichten Sie mir doch noch, bevor Sie wieder verschwinden. Haben wir schon erste Ergebnisse?“
„Nein, Monsieur Nourilly, wir haben doch erst gestern, und das erst am späten Nachmittag, begonnen. Heute Morgen haben wir noch nicht weiter ermitteln können. Wir haben die ersten Fingerabdrücke und ein gefundenes Projektil ins Labor gebracht. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um mir noch einige Kleidungsstücke für die kommenden Tage auf der Insel zu holen.“
Ewen wollte die Details zu seinen Lederschuhen auf Ouessant nicht weiter ausführen.
„Ich habe vergessen, dass Sie erst so kurz an dem Fall sind. Also, weiterhin viel Erfolg. Ich wäre natürlich froh, wenn wir den Fall schnell abschließen könnten. Damit würden Sie unser Kommissariat in ein gutes Licht setzen.“
„Wir werden unser Bestes geben, Monsieur Nourilly.“
Ewen verabschiedete sich von seinem Chef und machte sich wieder auf den Weg zum Flughafen.
Dustin wollte die gefundenen Fingerabdrücke und das Projektil sofort unter die Lupe nehmen und nach Übereinstimmungen in der Datenbank suchen. Er fuhr nicht gleich wieder auf die Insel zurück. Damit Ewen nicht ständig die Kollegen auf Ouessant bitten musste, ihn vom Landeplatz des Hubschraubers abzuholen, bat er den Piloten, ihn auf dem kleinen Strand, dem Plage de Corz , abzusetzen. Von dort konnte er die 200 Meter bis zum Hotel zu Fuß zurücklegen. Der Pilot war einverstanden, falls der Strand nicht zu bevölkert war. Von seinem ersten Aufenthalt auf der Insel hatte Ewen in Erinnerung, dass nur wenige Menschen den Strand besuchten. Die Bewohner und Besucher der Insel bevorzugten den kleinen Strand im Norden der Insel, den Plage de Yuzin.
Beim Anflug auf die Insel sah der Pilot, dass es heute tatsächlich kein Problem gab, dort zu landen. Als der Hubschrauber sich absenkte und dem Strand näher kam, erkannten sie zahlreiche Kinder, die der Landung des Hubschraubers zusahen. Die Landung war für sie das Ereignis des Tages. Ewen verabschiedete sich von dem Piloten, der inzwischen informiert war, dass er die Insel in den nächsten Tagen regelmäßig anfliegen musste. Der erneute Start des Hubschraubers beendete das Schauspiel für die Kinder, die dem Piloten eifrig nachwinkten.
Der Pilot sah sich auf dem Rückflug die Insel von oben an und stellte fest, dass es auf der Insel keine Bäume gab, was für den Einsatz eines Hubschraubers vorteilhaft war. Die Verfolgung eines Flüchtigen oder die Überwachung einer Region war hier deutlich einfacher als auf dem Festland, wo es genügte, sich zwischen einige Bäume zu stellen, um von oben nicht mehr gesehen werden zu können. Die Insel, in Form einer Krabbe, war ein herrlicher Anblick von hier oben. Deutlich, war an der wesentlich stärker zerklüfteten Westküste, die vorherrschende Windrichtung zu erkennen. Wie Nadeln stachen die Reste der ehemals mächtigen Granitblöcke in die Höhe. So eine bizarre Küstenlinie gab es in der Bretagne sonst nirgends. Dieser zerklüftete und von Wind und Wetter geformte Küstenabschnitt, in unmittelbarer Nähe zum Leuchtturm Phare du Creac´h, der, gemäß der Farben der bretonischen Flagge, in schwarzen und weißen horizontal verlaufenden Bändern angestrichen war, war ein einmaliger und sehenswerter Anblick.
Während der Hubschrauber sich bereits auf dem Heimflug befand, ging Ewen die wenigen Schritte bis zu seinem Hotel, stellte die mitgebrachte Tasche in sein Zimmer, zog bequeme Schuhe an, die auch für längere Fußmärsche geeignet waren, und machte sich auf den Weg zur Gendarmerie. Er vermutete seinen Kollegen Paul dort.
Paul saß am Tisch neben André Leriche, beide waren über eine Seekarte gebeugt.
„Hallo Ewen, wieder zurück von deinem Heimaturlaub?“ Paul lachte.
„Wir haben vorhin einen Anruf vom service maritime erhalten. Dustin hat bereits am Morgen mit dem Dienst telefoniert und die Leute um einige Auskünfte gebeten. Jetzt hat man uns von dort die Koordinaten einiger Schiffe übermittelt, die sich zu dem Zeitpunkt in unmittelbarer Umgebung von Norets Fischerboot aufgehalten haben. Ich habe gar nicht gewusst, dass so viele Schiffe an Ouessant vorbeifahren. André hat mir gerade gesagt, dass in jedem Jahr an die 60 000 Schiffe die Rail d´Ouessant benutzen. Das sind 165 Schiffe pro Tag. Eine erstaunliche Menge.“
„Ganz schön viel! Das sehe ich genauso, Paul. Was habt ihr inzwischen sonst noch herausgefunden?“
„Nun, wir haben die Koordinaten von sieben größeren Schiffen und von drei kleineren in die Karte eingetragen. Zum Zeitpunkt des Todes von Marc Noret ist ein großes Containerschiff, die Lan Shanghai , von der normalen Route abgewichen und ziemlich genau an der Stelle vorbeigefahren, an der das Boot von Noret gelegen hat. Marc Noret hat den Namen ja noch in sein Logbuch eingetragen, das wir gestern auf dem Boot gefunden haben. Ein zweites, kleineres Boot ist ebenfalls in der Nähe gewesen, das hat aber sein AIS-System ausgeschaltet gehabt. Daher haben wir weder den Namen des Schiffes, noch seinen Zielort erfahren können. Es ist aber auf dem Radar zu erkennen gewesen. Leider werden die Radardaten nicht gespeichert wie bei einem AIS.“
Ewen erinnerte sich plötzlich genau an das Schiff. Bereits am gestrigen Abend hatte er darüber nachgedacht, woher er den Namen des Schiffes kannte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Lan Shanghai war Bestandteil von Ermittlungen gewesen, bei denen es um die Ermordung eines französischen Geheimagenden, in der Umgebung von Pont-Aven, gegangen war. Der Agent war einem Geldfälscherring auf der Spur gewesen. Er war dabei von den Fälschern ermordet worden. In diesem Zusammenhang spielte damals das Schiff eine Rolle und war in die Ermittlungen einbezogen worden. Auf dem Schiff hatten chinesische Behörden einen Container entdeckt, in dem sich große Mengen Falschgeld befunden hatte. Die blaue Faser eines Netzes führte damals nach Concarneau. Jetzt tauchte der Name des Schiffes erneut auf. Welch ein Zufall, sinnierte Ewen.
Читать дальше