Ewen und Paul begannen mit der Untersuchung an Deck des kleinen Fischkutters. In der Mitte des Decks lagen zahlreiche Seile übereinander. Darüber lagen kleinere Netze in verschiedenen Farben. Netze von hellgrün über dunkelblau bis zu einem zarten rosa. Neben der Reling lagen drei Angeln auf dem Deck. Ewen suchte in dem Knäuel aus Stricken und Netzen nach dem Projektil. Wenn er sich die Schussbahn vor Augen führte, die das Projektil genommen haben musste, das die Planke durchschlagen hatte, dann musste es in dem Sammelsurium von Netzen und Seilen gelandet sein. Vorsichtig versuchte er, das riesige Knäuel zu entwirren und die Netze von den Seilen zu trennen. Ewen wunderte sich, wie einfach sich das gestaltete. Er hatte angenommen, dass alles nur wild durcheinander geworfen worden war. Jetzt erkannte er, dass Marc Noret mit seiner Ausrüstung sehr sorgsam umgegangen war. Was zuerst wie ein riesiges Knäuel ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit eine sehr sorgfältige Stapelung seiner Netze. Unter den Netzen lagen, ebenfalls sorgfältig und kreisförmig aufgewickelt, seine Taue. Zwischen den Netzen hatte Ewen kein Projektil gefunden, was ihn nicht weiter verwunderte, nachdem Dustin ihm von der Durchschlagskraft erzählt hatte. Er sah sich die dicken Taue an. Teilweise hatten sie den Umfang eines kräftigen Männerarmes. Hier wurde er fündig. Das Projektil hatte die ersten vier Windungen durchschlagen und steckte fast in der Mitte einer Schnecke des aufgerollten Taus.
„Dustin, ich habe das Projektil gefunden, möchtest du es selbst entfernen?“
„Komme sofort, ich bin hier gleich fertig. Ich habe hier so etwas wie ein Logbuch gefunden. Der letzte Eintrag heißt Lan Shanghai , der Name eines Schiffes.“
Ewen zuckte bei dem Namen zusammen. Der kam ihm bekannt vor. Er wollte später darüber nachdenken.
Paul hatte sich den Bug des Bootes vorgenommen, und Ausschau nach dort vorhandenen Spuren gehalten. Er hatte dort aber keine weiteren verwertbaren Spuren gefunden.
Dustin entfernte das Projektil mit einer Pinzette aus dem Tau und legte es in einen Plastikbeutel. Die genauere Untersuchung musste er in Quimper vornehmen, auf der Insel gab es keine Möglichkeit dazu.
„Wo ist der Fischer von dem Schuss getroffen worden?“, fragte Ewen den Gendarm auf dem Ruderboot.
„Ziemlich genau in der Herzgegend“, antwortete der Mann.
„Wo ist dann das zweite Projektil?“ Ewen sah sich um.
Dustin stellte sich neben Ewen und zeigte auf seiner Brust die angenommene Einschussstelle.
„Ich vermute, dass das Projektil irgendwo auf dem Grund des Meeres liegt. Das Projektil hat den Körper von Noret durchschlagen und ist dann auf der anderen Seite ins Meer gefallen.“
„Dann haben wir ja Glück, dass der erste Schuss durch die Planke gegangen ist, und sich im Tau verfangen hat. Sonst hätten wir keinerlei Spur der benutzten Waffe.“
„Das ist sicher richtig“, meinte Dustin und packte seine Utensilien zusammen.
„Ich bin hier fertig“, meinte er dann und sah seine Kollegen an.
„Wir können Schluss machen, ich glaube nicht, dass wir hier noch etwas finden“, sagte Ewen zu seinen beiden Kollegen und machte sich auf den Rückweg, um das Boot wieder zu verlassen und auf das Ruderboot zu klettern. Er ließ enorme Vorsicht walten in seinen Lederschuhen. Er musste dringend ein paar andere Schuhe kaufen.
Nach wenigen Minuten hatten sie den Hafen von Lampaul wieder erreicht. Sie bedankten sich bei dem Gendarmen der sie begleitet hatte und machten sich auf den Weg ins Hotel Le Fromveur. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Ewens Magen begann laut und vernehmbar zu knurren. Seit dem Frühstück hatte Ewen nichts mehr gegessen.
Die wenigen Schritte vom Hafen zu ihrem Hotel waren schnell zurückgelegt. Tanguy Kerlann erwartete seine Gäste bereits.
„Wie wäre es mit einem Aperitif für die Herren?“, fragte er gutgelaunt.
„Da sagen wir aber ganz bestimmt nicht nein“, meinte Ewen.
„Ich bringe nur noch meinen Koffer nach oben, dann bin ich sofort wieder da.“ Dustin zeigte auf seinen großen Alu-Koffer, mit all seinen Utensilien für die Spurensuche.
„Einen Rosé für Monsieur le commissaire?“ Kerlann grinste und hielt die leicht angelaufene Flasche hoch.
„Ich habe es bereits bei der Ankunft gesagt, selbstverständlich ein Glas Rosé für mich.“
Paul brauchte nicht lange zu überlegen, er entschied sich ebenfalls für ein Glas von dem gut gekühlten Wein. Als Dustin in den Wirtsraum trat, rief er schon von der Tür aus, „einen Campari“ für mich.
„Mit Wasser oder Orangensaft?“, fragte Tanguy Kerlann.
„Pur, immer nur pur“, antwortete Dustin.
Sie saßen um den kleinen Tisch am Fenster. Auf der Terrasse, vor dem Fenster, standen drei Tische, die die Inselbewohner besetzt hatten. Junge Leute, die von der Arbeit auf einen Aperitif vorbeigekommen waren, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Beständig fuhren Fahrräder oder Autos am Hotel vorbei, das an der Hauptstraße des Ortes lag.
„Man könnte meinen in einer Großstadt zu sein!“ Dustin sah seine Kollegen an. Er war beeindruckt von dem regen Verkehr. Tanguy Kerlann war an ihren Tisch getreten, um den Campari zu bringen, und hatte die letzten Worte von Dustin mitbekommen.
„Davon sind wir aber noch weit entfernt. Auf der ganzen Insel gibt es nur 500 Autos.“
„Die scheinen aber ständig unterwegs zu sein“, meinte Dustin und lachte.
„Das Benzin gehört doch bestimmt zu den teuersten Produkten auf der Insel?“
„Nun ja, es ist schon deutlich teurer als auf dem Festland. Es kostet ungefähr 30 Centime mehr pro Liter, es muss eben auf die Insel gebracht werden. Aber das gleicht sich wieder aus.“
„Wieso gleicht sich das aus?“ Dustin verstand die Aussage nicht.
„Ganz einfach, wir können nicht viel fahren. Die Insel ist ja nur ganze sieben Kilometer lang. Selbst die Navettes, wie die Taxis bei uns heißen, tanken höchstens einmal in zwei Monaten.“
„Ach, Monsieur Kerlann, bevor ich es vergesse. Ich brauche dringend andere Schuhe.“ Ewen zeigte auf seine Lederschuhe. „Ich habe vergessen, mir inseltaugliche Schuhe mitzunehmen. Wo kann ich die am besten bekommen?“
„Morgen um 17 Uhr legt die Fromveur ab, mit der können Sie nach Brest fahren.“
Ewen sah Monsieur Kerlann zuerst leicht verdutzt an, dann erinnerte er sich wieder an seinen Aufenthalt mit Carla. Auf Ouessant gab es keinerlei Schuh- oder Kleidergeschäfte. Für alles mussten die Insulaner mit dem Schiff aufs Festland fahren.
„Dann werde ich wohl vorerst mit diesen Schuhen vorlieb nehmen müssen.“
„Du kannst doch morgen vielleicht mit dem Hubschrauber mitfliegen und dir ein paar Schuhe von zuhause holen. Ich muss meine ganze Sammlung an Fingerabdrücken und das Projektil ins Labor bringen, da muss der Hubschrauber sowieso herkommen. Nourilly wird zwar nicht begeistert sein, wenn wir den Hubschrauber so oft einsetzen, aber schließlich hat er uns gebeten, hier auszuhelfen.“ Dustin sah Ewen an, als wollte er ihm sagen: Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr?
Ewen nickte, prostete seinen Kollegen zu und nahm einen Schluck des kühlen Rosé.
Nach dem gemeinsamen Aperitif gingen sie ins Restaurant. Auch hier erhielten sie einen Tisch am Fenster. Der Garçon brachte ihnen die Speisekarte und ließ ihnen Zeit für ein gründliches Studium derselben.
„Ewen, du hast doch Erfahrung mit dem Restaurant, was kannst du mir empfehlen?“ Paul sah seinen Kollegen an.
„Paul, mir hat hier alles gut geschmeckt. Ich werde mich heute für ein Menu entscheiden. Ich nehme das Enez Eusa.
Enez Eusa war der bretonische Name der Insel. Enez bedeutete Insel und Eusa Ouessant.
Die Kollegen sahen auf Ewens gewähltes Menu.
„Ewen, hier steht, dass der Preis des Menus, inclusive einer Vorspeise, bei 19 oder mit zwei bei 29 Euro liegt. Es sind nur drei Vorspeisen aufgelistet. Kann ich mir von den dreien zwei wählen?“ Dustin sah Ewen gespannt an.
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