Das Hotel Le Fromveur lag im Zentrum des kleinen Ortes, nur wenige Meter von der Kirche, dem kleinen Spar Supermarkt und einigen Andenkengeschäften entfernt.
Der Polizeiwagen hielt vor der Eingangstür und die drei Männer stiegen aus, holten ihre Gepäckstücke, die sie vor dem Einsteigen in den Kofferraum gelegt hatten, und betraten das Hotel.
„Bonjour Monsieur le commissaire“, begrüßte sie der Wirt, Tanguy Kerlann. Ein Mann um die 50, dicklich, mit einem sympathischen Lächeln.
„Bonjour Monsieur Kerlann, so schnell kann man sich wiedersehen“, meinte Ewen und reichte dem Wirt die Hand.
„Ich habe Ihnen doch beim letzten Besuch gesagt, wer einmal auf der Insel gewesen ist, der will nicht mehr weg von hier.“
Ewen musste lachen, er erinnerte sich zu gut an seine Gedanken, beim damaligen Ausspruch dieser Worte des Wirts. Damals war er davon überzeugt, dass alleine schon der Gedanke an eine erneute Durchquerung des Fromveur , einen dazu bringen konnte auf der Insel bleiben zu wollen.
„Wie geht es Ihrer Frau, Gaëlle?“, fragte Ewen den Wirt.
„Der geht es bestens, sie ist in der Küche und bereitet alles für den Abend vor. Was bringt Sie wieder auf die Insel?“
Kerlann sah Ewens Kollegen an und reichte jedem die Hand.
„Eine Straftat, Monsieur Kerlann.“
„Ach, der Tod von dem Alten, Marc Noret?“
„Ich habe mir die Akte noch nicht genau angesehen, aber es kann schon sein, dass das sein Name gewesen ist.“
„Ja, der arme Noret, er ist zwar ein ziemlicher Eigenbrötler gewesen, aber eine liebenswerte Person. Wir haben es nicht fassen können, als wir gestern von seinem Tod gehört haben. Als die Küstenwache sein Boot im Schlepptau in den Hafen gebracht hat, da haben wir gedacht, es hätte einen Zusammenstoß mit einem anderen Schiff gegeben, oder er sei einem Herzinfarkt erlegen. Er ist ein erfahrener Fischer gewesen und hat die Gewässer um Ouessant wie kein Zweiter gekannt. Genauso gut hat er von den Gefahren gewusst, die das Meer rund um die Insel birgt. Deshalb glauben wir nicht an einen Unfall. Dann gibt es das Gerücht, dass er ermordet worden ist. Nachdem Sie jetzt hier eingetroffen sind, muss wohl etwas dran sein.“
„Ja Monsieur Kerlann, da ist wohl etwas dran. Wir würden gerne unsere Zimmer beziehen, wenn es möglich ist?“
Ewen wollte sich jetzt nicht ausführlicher zu dem Fall äußern, zumal er selbst noch nicht so richtig wusste, was genau vorgefallen war.
„Natürlich ist es möglich, die Saison ist fast vorbei, da sind nicht mehr alle Zimmer besetzt. Ihre Zimmer sind schon bereit.“
Tanguy Kerlann zog eine Schublade unter seinem Empfangstisch auf und entnahm ihr drei Schlüssel. Er reichte Ewen den Schlüssel mit der Nummer 10, Paul Chevrier reichte er die 11 und Dustin die Nummer 15.
„Sie kennen sich ja schon aus, Monsieur le commissaire“, sagte Tanguy und zeigte auf die rechte Seite seiner Theke.
„Die Treppe hoch und durch den Wintergarten.“
„Danke, Monsieur Kerlann, ich kenne mich noch aus.“
Ewen ging voran. Auf der ersten Etage lagen die Zimmer 10 und 11 auf der rechten Seite. Dustin musste, um sein Zimmer zu erreichen, den kleinen Wintergarten durchqueren und eine weitere Treppe nach oben steigen. Die Herren verabredeten sich in einer viertel Stunde im Gastraum des Hotels, um sich die Akte genauer anzusehen.
Ewen legte seine Reisetasche im Zimmer ab, nahm die Akte aus der Mappe und machte sich sofort auf den Weg nach unten.
Dann sprach er den Wirt an.
„Monsieur Kerlann, Sie haben vorhin die Gerüchte erwähnt, die zurzeit im Umlauf sind. Was genau erzählen sich die Insulaner denn?“
„Nun, Monsieur le commissaire, ich kann Ihnen nicht viel sagen, mir ist nur bekannt, dass ein Schiff der surveillance maritime das Boot von Marc Noret aus der Fahrrinne gezogen hat. Es soll sich mitten in der Strömung des Fromveur befunden haben. Als die surveillance maritime das Boot per Funk kontaktiert hat, hat niemand auf dem Boot geantwortet. Die Strömung ist bereits dabei gewesen, das Fischerboot in Richtung des Kanals zu ziehen. Es wäre ganz bestimmt zu einer Kollision mit einem der großen Schiffe gekommen, wenn das Boot nicht rechtzeitig abgefangen worden wäre. Es hätte Fürchterliches passieren können. Unsere größte Angst auf Ouessant ist eine erneute Ölkatastrophe, wie die der Amoco Cadiz vor 36 Jahren. Ich bin damals noch ein kleiner Pimpf gewesen. Mein Vater hat mich mit zum Strand genommen. Ich habe beim Säubern geholfen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Öl in ein Schiff von 334 Meter Länge passt.“
Ewen wollte wieder zum eigentlichen Thema zurückkehren.
„Die surveillance maritime hat das Boot von Noret herrenlos in der Strömung gefunden?“
„Ja, so erzählt man im Dorf.“
Inzwischen waren auch Ewens Kollegen heruntergekommen.
„Wir setzten uns an einen Tisch in der Bar, Monsieur Kerlann, um die Akten zu studieren. Bringen Sie uns etwas zu trinken?“
„Einen Rosé für Sie?“ Tanguy Kerlann konnte sich noch erinnern, dass Kerber immer nach einem Rosé gefragt hatte.
„Nicht in der Dienstzeit, später sehr gerne. Sie können schon eine Flasche kaltstellen. Jetzt wäre eine Tasse Kaffee genau das Richtige.“
„Für mich ebenfalls“, sagte Paul, und Dustin bestellte eine Flasche eau plate .
Ewen legte die Akte auf den Tisch, und sie sahen sich die wenigen Informationen an.
Das Protokoll der Küstenwache, die Aussage des Matrosen, der als erster auf das Boot von Noret gekommen war, schließlich noch die Bilder, die die Küstenwache auf dem Boot aufgenommen hatte.
Marc Noret war früh am Morgen, gegen halb sechs aufgestanden. Die größeren Fischerboote fuhren zum Sardinenfang bereites am Abend aufs Meer und legten ihre Netzte aus. Sie kamen dann gegen halb sechs am Morgen wieder zurück. Marc Noret machte sich selten vor sieben Uhr auf den Weg. Er fischte stets mit der Angel, oder wie die Bretonen sagten, la pêche en ligne. Da kam es nicht so darauf an, schon in der Nacht unterwegs zu sein.
Ein Blick aus dem Fenster seines Häuschens, dass in Pen Ar Lan , gleich hinter dem kleinen Flughafen der Insel lag, sagte ihm, dass das Wetter gut werden würde. Er musste keine größeren Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er legte sich seine drei Angeln bereit, kümmerte sich um die Köder und packte alles auf den Anhänger, den er an seine Vélosolex befestigen konnte. Jetzt machte er sich auf den Weg zum Hafen. Er hatte seine Anlegestelle im Port du Stiff, nahe am Embarquement , wie die Anlegestelle genannt wurde, von wo aus die Fähren zum Festland ausliefen bzw. wo sie einliefen. Er war einer der letzten Fischer der Insel. Früher lebten die Insulaner fast ausschließlich vom Fischfang, wenn man von den etwas dunkleren Zeiten absah, in denen die Strandräuberei eine wesentliche Einnahmequelle war.
Anfang des 17. Jahrhunderts, zu Vaubans Zeiten, hatten die Bewohner von Ouessant nicht wie heute, den Ruf unerschrockener Retter, für die in Seenot geratenen Schiffe und deren Besatzungen. Vielmehr galten sie als rücksichtslose, ja mörderische Strandräuber. In jener Zeit, galt die Beschäftigung mit dem Raub von Strandgut nicht als unehrenhaft, sondern war für die Bewohner vielmehr eine Tätigkeit, der man sich professionell und ideenreich nähern musste. Wenn die regelmäßigen Havarien, an den Riffen rund um die Insel Ouessant nicht ausreichten, um den Insulanern ein erträgliches Einkommen durch den Raub von Strandgut zu sichern, band man in der Nacht Rindern Fackeln an die Hörner und trieb sie über den Strand. Dadurch wurden Schiffe in die Irre geleitet und zerschellten an den Riffen. Erst Colbert bereitete 1681 der hinterhältigen Piraterie ein Ende, indem er die Todesstrafe für Strandräuber einführte.
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