Es gab keine andere Möglichkeit, er musste nach Sassnitz, wenn er den Weg durch den Wald nahm, konnte er etwas abkürzen. Er marschierte los. Jeden Pulsschlag spürte er, als ob ihm jemand mit einem Hammer auf die Hand schlagen würde. Wie in Trance eilte er durch den Wald. Er kannte die Gegend und wusste in welcher Strasse der Arzt seine Praxis hatte.
Mit letzter Kraft schleppt er sich die Treppe zur Arztpraxis hoch. Die Arzthelferin wurde blass im Gesicht, als sie seine Hand sah.
«Herr Doktor!», rief sie, «kommen sie schnell, ein Notfall!»
«Das sieht ja furchtbar aus», stellte der fest, «schnell auf den Behandlungstisch, holen sie heisses Wasser und Desinfektionsmittel.»
Er gab Dieter eine Spritze gegen die Schmerzen, dann machte er sich ans Säubern der Wunde. Immer wieder zuckte Dieter zusammen. Endlich wurde die Wunde mit drei Stichen genäht, jetzt liessen die Schmerzen etwas nach. Als der Arzt ihm den Verband anlegte fragte er ihn, wie das passieren konnte. Dieter schilderte ihm den Hergang des Unfalls und wie er sich bis nach Sassnitz durchkämpfen musste.
«Ich schreibe dich für vier Wochen krank, bis dann sollte die Wunde verheilt sein», erklärte er, «dem Herrn, wie heisst er, ah, Paul, den werde ich wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen. Wenn du im Wald ohmmächtig geworden wärst, hätte es schlimm enden können. So etwas ist mir schon lange nicht mehr vorgekommen.»
Der freundliche Arzt brachte Dieter noch mit seinem Auto nach Marlow. Dort konnte sich Dieter dank der Führsorge von Mutti gut erholen. Nach einer Woche war die Hand soweit verheilt, dass er bei der Betreuung der Tiere mithelfen konnte. Auch lange Spaziergänge mit Lumpi taten ihm gut.
Wie der Arzt richtig vermutet hatte, konnte Dieter nach vier Wochen wieder arbeiten. Die Hand wurde noch mit einem Verband geschützt, doch er konnte sie wieder brauchen. Gespannt wartete Dieter in Bergen, dem Firmenhauptsitz, welche Arbeit ihm zugeteilt wurde.
«Du sollst dich beim Betriebsleiter melden», erklärte ihm ein Lehrling in der Umkleidekabine.
Dieter stieg die Treppe hoch und klopfte im Büro an.
«Herein!», rief eine Frauenstimme und Dieter trat ein.
«Ich bin Dieter und soll mich bei Betriebsleiter melden.»
«Ich weiss», entgegnet die hübsche Sekretärin und lächelte ihn freundlich an, «ich bin Bärbel.»
Bärbel streckte ihm die Hand entgegen, hielt dann allerdings inne, als sie den Verband sah, «Tut es noch weh?»
«Eigentlich nicht», erklärte ihr Dieter, zu mehr reichte es nicht mehr, denn der Betriebsleiter rief ihn, er solle eintreten.
«Du bist also Dieter», der Betriebsleiter reichte ihm die Hand, «wie war das mit dem Unfall?»
Dieter erzählte ihm wie es ablief. Der Betriebsleiter hörte zu, obwohl er die Geschichte schon kannte. Danach gab es eine kurze Pause. Der Betriebsleiter schien zu überlegen.
«Also der Herr Paul hatte den Unfall etwas anders geschildert», erklärte er dann, «ich glaube dir, aber gegen den Herrn Paul kann ich nichts unternehmen. Erstens ist er ein sehr guter Ausbilder den wir unbedingt brauchen und zweitens für eine Gerichtsverhandlung steht Aussage gegen Aussage. Am besten, wir vergessen den Unfall, es geht dir ja wieder gut. Eines leuchtet mir ein, du kannst nicht mehr mit Herr Paul zusammenarbeiten. Ich suche deshalb eine andere Lösung. Zwei Zimmerleute aus Dranske sind bereit, dich anzustellen.»
«Gut, ich bin damit einverstanden», entgegnete Dieter, er wollte einfach seine Lehre beenden.
Bereits am Nachmittag stellte sich Dieter bei den beiden Zimmerleuten vor. Als sie ihn mit seinen langen Haaren sahen, waren sie nicht begeistert. Sie waren aber so klug, dass sie Dieter zumindest die Möglichkeit gaben, zu zeigen, was er konnte.
Dieter gab sich viel Mühe und arbeitete hart und konzentriert. Dies schätzen die beiden und es entstand ein kollegiales Verhältnis. Die erste Woche arbeitete Dieter im Betrieb, dann mussten sie ein altes Hotel in Dranske umbauen. Dieter wurde ein Wohnwagen in die Nähe des Hotels hingestellt, dort konnte er schlafen und hatte nur einen kurzen Weg zu seinem Arbeitsplatz. Die beiden Zimmerleute fuhren abends mit ihren Fahrrädern nach Hause denn sie wohnten in der Nähe von Dranske.
Es wurde kälter. Der Winter kündigte sich an. Dieter stand jeden Morgen früh auf und heizte den Wohnwagen. Wenn die beiden Zimmerleute auf der Baustelle ankamen, servierte er ihnen immer einen heissen Kaffee. Die beiden Brüder schätzten diesen Sonderdienst und das Verhältnis zu Dieter wurde immer besser. Sie konnten ihm viele Tricks beibringen, wie man seine Arbeit schneller und einfacher erledigen konnte.
Endlich, die Abschlussprüfung zum Betonfacharbeiter stand an. Dieter musste nach Bergen. Die Prüfung wurde im Hauptsitz des Betriebs durchgeführt. Dieter hatte sich herausgeputzt, die schönsten Beatles-Klamotten. Die lockigen blonden Haare, die inzwischen bis zur Schulter reichten, waren sauber gewaschen. Die andern Lehrlinge musterten ihn kritisch. Alle trugen sie kurz geschnittene Haare.
Alle Lehrlinge waren bereits versammelt und standen in einer Reihe aufgereiht. Dann, Dieter fuhr der Schreck in die Glieder, der Prüfungsexperte war Herr Paul, welcher locker auf die Reihe der Prüflinge zuschritt. Als er Dieter erkannte, verfinsterte sich seine Miene, er wurde rot im Gesicht und kam direkt auf Dieter zu.
«Was fällt dir ein!», schrie er ihn an, «mit so langen Haaren wirst du bei der Prüfung nicht zugelassen!»
«Ich habe kein Geld um zum Frisör zu gehen.»
«Das ist nicht mein Problem, so kannst du die Prüfung nicht machen!»
Also nickte Dieter und verzog sich, um in Bergen einen Frisör zu suchen. Der verpasste ihm einen sozialistischen Einheitsschnitt.
Dieter zahlte und verliess den grausamen Laden. Als er zum Hauptsitz zurückkam, waren die andern Lehrlinge bereits am arbeiten.
«Ist die Frisur so in Ordnung?», fragte er Herr Paul, «kann ich jetzt anfangen?»
Der überreichte ihm die Zeichnung, auf der das gewünschte Objekt aufgezeichnet war.
«Dein Platz ist da drüben, du bist leider etwas spät dran, aber ich kann nichts dafür.»
Dieter studierte seine Aufgabe. Eine happige Aufgabe. Es war klar, er würde die Höhe von einem Meter siebzig nicht schaffen. Er kniete sich rein und arbeitete sehr schnell und präzise. Als er sah was die andern Lehrlinge für Aufgaben zu erledigen hatten, war er sauer. Ihre Aufgabe war viel einfacher, aber er wollte es ihnen zeigen und schuftete umso härter. Er brauchte den Facharbeiter, denn ein Facharbeiters verdiente 600 Mark im Vergleich zu einem Hilfsarbeiter mit 100 Mark. Die Anstrengung lohnte sich.
«So, die Zeit ist um», mit einem gemeinen Lächeln im Gesicht, beendete Herr Paul die Arbeit von Dieter.
Dieter räumte sein Werkzeug zusammen und ging in die Garderobe. Kritisch beachtete er die Werke der andern Lehrlinge. Er fand, seines war nicht das schlechteste. Nur die andern wurden alle fertig, er war der Einzige, welcher die Arbeit nicht beenden konnte. Es dürfte kritisch werden. Wenn man noch berücksichtigte, dass er noch zwei Schulfächer mit einer Fünf abschloss, dürfte es knapp werden. Die beiben Fünfer waren Staastbürgerkunde und Betriebsökonomie.
Eine Woche später wurde Dieter zum Betriebsleiter bestellt. Der machte es spannend.
«Dieter, ich möchte dich über das Ergebnis der Facharbeiterprüfung informieren», er machte eine kurze Pause, «du weisst ja, dass du die Arbeit nicht beendet hast, das gab Abzug, trotzdem, ich kann dir zur bestandenen Prüfung gratulieren. Die Kommission hatte die Exaktheit und die Qualität der Arbeit recht gut bewertet, zudem haben dir die beiden Zimmerleute ein gutes Zeugnis ausgestellt. So konnte die Prüfungskommission ein Auge zudrücken und die schlechten Schulnoten, als weniger gravierend einstufen. Ich gratulier zum bestehen der Prüfung! Arbeiten kannst du ja, das haben mir mehrere Leute bestätigte.»
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