Dieter und Mieke besuchten sich gegenseitig. Mal half Dieter auf dem Hof bei Mieke mit, dann half Mieke beim reparieren des Hauses der Familie Thom. Sie wurden ein unzertrennliches Team.
Wie üblich, wurde die Schlachtung eines Schweins zuhause bei Mieke mit einem kleinen Fest gefeiert. Das Schlachten bedeutete viel Arbeit und abends wurden die ersten Würste gegessen und danach mit Schnaps nachgespült. Der Schnaps tat seine Wirkung. Plötzlich erzählte Milke von damals. Bis jetzt wusste Dieter immer noch nicht, was sich damals ereignete. Doch nun begann er zu erzählen und Dieter hörte die leidige Geschichte das erste Mal.
«Also, das war so!», begann Mieke zu erzählen, «ich sass mit meinen Freunden in der Kneipe. Wir tranken Bier, dann kam Dirk in die Kneipe und bestellte ein Bier. Wie meistens hänselten wir ihn, weil er starkes Übergewicht hatte. Einer nannte ihn Schweinchen. Der Dirk wurde wütend, er war zwei Jahre älter als ich, obwohl ich nichts gesagt hatte, griff er mich an. Er wollte mir die Bierflasche auf den Kopf hauen. Ich konnte im letzten Moment den Arm hochreissen und den Schlag an meinem Kopf vorbeilenken. Der Schlag traf mich an der Schulter. Es tat höllisch weh. Der Dirk rannte aus der Kneipe. Ich war wütend und meine Freunde meinten, ob ich mir das einfach so bieten lasse. Natürlich konnte ich das nicht auf mir sitzen lassen und rannte Dirk nach. Ich stellte ihn vor der Kneipe zur Rede. Ich fackelte nicht lange und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er wich zurück und strauchelte und viel der Länge nach hin. Sein Kopf schlug hart auf dem Bürgersteig auf. Wir merkten sofort, dass er tot war, seine Augen waren gebrochen und er hatte keinen Puls mehr. Es gab ein grosser Auflauf, alle diskutierten wild durcheinander. Sie brachten die Leiche schliesslich zu seiner Mutter, welche einen Schock erlitt. Ich wurde kurz darauf festgenommen.»
«Aber du konntest ja gar nicht dafür, es war ein dummer Unfall», entfuhr es Dieter.
«Nur, dass am Ende ein junger Mann tot war und da braucht man einen Schuldigen», meinte Mieke und erzählte weiter, «ich wurde in die Jugendstrafanstalt überführt. Dort sass ich zwei Tage lang in einer Einzelzelle. Das Essen wurde durch die Türe geschoben, sonst hatte ich zu niemandem Kontakt. Dann wurde ich zum ersten Verhör geholt. Ich konnte das erste Mal erzählen, wie ich den Vorfall erlebt hatte. Ich musste ein Protokoll unterzeichnen, dann war ich wieder allein in der Zelle. Die Zeit verging, ich wurde nun wie die andern Gefangenen behandelt, das hiess eintöniger Gefängnisalltag. Schlafen in einer Sechser Zelle, gemeinsam Aufstehen, gemeinsam Essen, danach arbeiten in der Wäscherei, essen und weiter arbeiten. Nachmittags ein kurzer Rundgang im Gefängnishof, Nachtessen und schlafen. Immer der gleiche Trott. Dazu Aufseher die jede Kleinigkeit, welche von den Vorschriften abwichen, mit lautem Gebrüll beantworteten und sofort Drohungen aussprachen.»
«Muss ja schlimm gewesen sein», warf Dieter ein.
«Ja, vor allem weil ich keine Ahnung hatte, wie lange das nun so weiterging. Der Prozess stand noch aus. Ich wusste nicht mehr wie lange ich auf den Prozess warten musste, aber eines Tages wurden meine Haare vorschriftsmässig kurz geschnitten und ich bekam einen schön Anzug zum anziehen, dann wurde ich im Polizeiauto in die Stadt gefahren. Beim Prozess war auch Dirks Mutter anwesend. Mit hasserfüllten Blicken verfolgte sie den Prozess. Der Vorfall wurde nochmals aufgerollt, mehrere Zeugen befragt. Die Anklage auf Mord wurde fallen gelassen, man einigte sich auf vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge. Doch dann nahmen sie noch meine persönliche Akte zur Hand und stellten fest, dass ich schon früher Schlägereien hatte. Eigentlich normale Prügeleien unter Jugendlichen, die nie angezeigt wurden, doch die wussten über alles Bescheid, wie sie dazu kamen, keine Ahnung.»
«Trotzdem, du hattest Glück, dass sie es nicht als Mord beurteilten», warf Dieter ein, «dann sässest du immer noch im Knast.»
«Das schon», fuhr er fort, «sie fanden auf Grund meines Lebenswandels, müsste mir ein Denkzettel verpasst werden. Dreieinhalb Jahre Jugendhaft, ich hatte eigentlich mit einer bedingten Strafe gerechnet, für mich brach eine Welt zusammen. Dreieinhalb Jahre, die ganze Jugend war gelaufen. Ich war am Boden zerstört. Ich kam in eine Jugendstrafanstalt für schwere Fälle. Im Vergleich zur Untersuchungshaft war es die Hölle. Die andern Häftlinge waren harte Kerle, Mörder und Vergewaltiger. Die Vergewaltiger hatten es besonders hart, wann immer die andern die Möglichkeit hatten, schikanierten sie diese auf Übelste. Ich hatte insofern Glück, dass ich unter den Ganoven als Mörder galt, da hatten sie etwas Respekt. Mit der Zeit gewöhnte man sich an den Tagesablauf. Auch wenn die Wärter, - alles Psychopaten - sich einen Spass daraus machten, einem, wenn immer möglich zu schikanieren. Sie meinten, sie müssen die Jungen auf den rechten Weg bringen und sie in der Sozialistischen Gesellschaft wieder integrieren .
Dieser Weg führte aus ihrer Sicht, nur über Arbeit und bedingungslosem Gehorsam.»
«Das kenne ich, genau wie meine Lehrerin.»
«Da irrst du dich, die hatten noch viel mehr Möglichkeiten und sie wurden nicht kontrolliert, je fieser sie zu den Gefangenen waren, umso besser fiel Ende Jahr ihre persönliche Beurteilung aus und die war Voraussetzung, wenn sie Karriere machen wollten. Ich habe mich angepasst und spielte den Unterwürfigen, gab mich als fanatische Anhänger des Sozialismus aus und besuchte die gefängnisinternen Parteiveranstaltungen. Nach zwei Jahren und drei Monaten wurde ich wegen guter Führung entlassen. Der wahre Grund war wohl, dass sich immer mehr politische Häftlinge aufnehmen mussten und sie deshalb Platzprobleme bekamen.»
Nach dieser Aussprache wurden Dieter und Mieke noch engere Freunde. Gemeinsam reparierten sie das alt Haus so gut es ging. Dieter hatte noch drei Wochen Zeit, bevor die Schule anfing. Die beiden Freunde arbeiteten von morgen früh bis abends. Zuerst wurde das Dach abgedichtet. Dann hatten sie auch das Material organisiert, mit dem sie die ausgebrochene Wand neu aufbauen konnten. Nun musste noch der Schornstein neu gemauert werden, dann war das wichtigste erledigt.
«So, das haben wir hingekriegt», zufrieden wischte Dieter den Kessel aus, in welchem sie den Mörtel angerührt hatten, «Mieke, kommst du mit, ich denke, wir haben uns ein Bier verdient!»
«Weiss nicht», antwortete der, «ich war nie mehr im Dorf.»
«Dann wird es Zeit, dass du wieder einmal unter die Leute gehst, du kannst dich nicht immer verstecken.»
«Gut», man merkte ihm an, dass er skeptisch war, «aber du zahlst!»
«Natürlich, ich habe dich ja eingeladen!»
Gemütlich plaudernd, schlendern sie durch Sagard in Richtung Kneipe.
«Da! – Da läuft der Mörder meines Sohnes!», eine hysterische Frauenstimmer schrie wie am Spiess, «er wagt es, sich in unserm Dorf zu zeigen!»
Sofort gingen an den umliegenden Häusern die Fenster auf. Die Leute starrten auf die Strasse, um nachzuschauen, wer da so hysterisch herumschrie. Der Mieke zuckte zusammen, er wurde weiss im Gesicht und rannte zurück durchs Dorf nach Hause.
Die Frau kam immer noch schreiend auf Dieter los. Am liebsten hätte sie ihn angegriffen, sah aber ein, dass der stärker war.
«Was willst du von Mieke?», fragte Dieter die wütende Frau, «er hatte seine Strafe abgesessen.»
«Die Strafe abgesessen?», jammerte die Frau, «ich hör wohl nicht recht! - Er hatte meinen Sohn ermordet? – Dirk ist für immer tot!»
«Ja, das ist sehr traurig und Mieke leidet immer noch.»
«So er leidet?», die Frau wollte zu einem Schlag ausholen, Dieter schaut ihr in die hasserfüllten Augen, sie senkte ihren Arm, doch ihre Augen glühten weiter vor Hass.
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