Inzwischen hatten sich viele Leute auf der Strasse eingefunden. Einige Frauen nahmen die tobende Mutter zur Seite und versuchten sie nach Hause zu bringen. Dieter setzte seinen Weg in die Kneipe fort. Die Leute schauten im zornig nach.
«Wer einem Mörder hilft, ist selbst ein Mörder!» rief einer hinterher, dann verschwand Dieter in der Kneipe und bestellte sich ein Bier. Er sass allein an einem Tisch in der Ecke. Den bösen Blicken der andern Gäste wich er aus. Ab und zu glaubte er Sachsenschwein zu hören. Die Sachsen sind auf Rügen nicht gut angesehen. Wenn so einer sich noch für einen Mörder einsetzte, war das eine Provokation. Dieter achtete nicht auf das Geschwätz. Er dachte über Mieke nach, der Vorfall würde ihn sicher zurückwerfen. Jetzt wird er erst recht nicht mehr unter die Leute gehen. Er zahlte sein Bier und machte sich auf den Heimweg.
Die Strassen von Sagard waren verlassen und nur spärlich beleuchtet. Dieter ging schneller, er hatte ein ungutes Gefühl. Da spürte er einen harten Schlag ins Genick. Der Schlag kam so überraschend, er konnte ihm nicht mehr ausweichen. Er viel hin. Drei junge Männer stürzten sich auf ihn und bearbeiteten ihn mit Stöcken und Fusstritten. Dieter versuchte mit den Armen seinen Kopf zu schützen.
«Da hast du’s du Sachsenschwein!», wieder steckte Dieter einen Schlag mit dem Stock ein, dann wurde er ohnmächtig.
Als Dieter wieder zu sich kam, lag er in der Gosse. Er tastete seinen Körper ab. Anscheinend war nichts gebrochen, doch wo er hinlangte, spürte er eine klebrige Masse. Überall war Blut. Er rappelt sich auf und schleppte sich nach Hause. Bevor er ins Haus eintrat, wusch er sich am Brunnen. Im Haus war es ruhig, alle schliefen schon.
«Was ist denn mit dir passiert!», rief Mutti, als er zum Frühstück erschien.
«Ach nichts», versuchte Dieter zu beruhigen, «ich bin ausgerutscht und dumm hingefallen, das wird schon wieder.»
«So, hingefallen!», sie ging auf ihn zu und untersuchte die Wunden, «setz dich, das muss ausgewaschen werden, sonst gibt es eine Infektion.»
Vorsichtig reinigte Mutti die Wunden und verarztet ihn so gut es ging.
Nachdem Dieters Wunden versorgt waren, machte er sich auf, um Mieke zu besuchen. Seine Mutter war allein in der Küche. Sie erschrak, als sie das zerschlagene Gesicht von Dieter sah.
«Was ist mit dir geschehen?»
«Ach, ich bin ausgerutscht und dumm hingefallen.»
«Was war gestern los?», wollte die Mutter von Mieke wissen, «Mieke ist in seinem Zimmer verschwunden und nicht mehr aufgetaucht.»
«Mieke war auf dem Weg zur Kneipe, als wir Dirks Mutter begegneten und die hatte sich aufgeregt.»
Dieter klopfte bei Mieke an die Zimmertür. Mieke erschrak als er das Gesicht von Dieter sah.
«Das hast du nun davon», erklärte er, «ich weiss, dass ich mich im Dorf nicht zeigen darf!»
«Blödsinn, du darfst dich nicht verkriechen», erklärte Dieter, «verkriechen ist keine Lösung, du musst dich denen stellen, sie müssen begreifen, dass du auch ein Recht hast weiterzuleben.»
Die Wunden in Dieters Gesicht heilten schnell. Die Wunde in Miekes Herzen brauchte länger.
Nun begann der Alltag auf Rügen. Vati arbeitete auf dem Bahnhof Sagard und verdiente recht gut. Auf dem Viehmarkt kaufte Familie Thom zwei Schafe, ein Schwein und einige Hühner. Land war genug da, so konnten sie auch den Stall nutzen. Das Versorgen der Tiere war die Aufgabe von Mutti. Natürlich halfen ihr Olaf und vor allem Moni dabei. An dem Wochenende versorgte auch Dieter die Tiere. Schon bald vermehrten die sich, es kamen zwei junge Schafe dazu und aus den paar Hühnern wurde bald hundertfünfzig. Später kauften sie noch einige Gänse und Enten.
Die Ferien für Dieter waren zu Ende. Er musste seine Lehre in der Firma VEB Bau Bergen/Rügen fortsetzen. Er meldete sich pünktlich auf den vereinbarten Termin in der Werkstatt und erkundigte sich nach Herr Paul.
Ein Mann in den sechziger kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Dazu redete er auf Dieter ein, nur der verstand kein Wort, sein neuer Boss sprach original Plattdeutsch, da verstand man als Sachse kein Wort.
«Entschuldigung», bemerkte Dieter, «ich verstehe kein Plattdeutsch.»
«Dann musst du dir die Haare schneiden, dann verstehst du mich besser.»
Dieter wurde mit den andern neun Lehrlingen bekannt gemacht. Alle kamen aus Rügen und sprachen untereinander nur Platt. Natürlich hatten alle kurz geschnittene Haare. Die hatten sich alle gegen den Sachsen verschworen. Sie schwärzten ihn an wo sie nur konnten. Zum Glück war Dieter in praktischen Dingen sehr begabt, so fanden sie nur wenige Gründe, ihn bei Herr Paul anzuschwärzen. Dieser war aber eh nicht gut auf Dieter zu sprechen, wann immer es etwas zu meckern gab, erledigte er dies mit grossem Vergnügen.
Dieter überstand die ersten drei Wochen Praktikum. Jetzt war eine Woche Schule angesagt. Am Montagmorgen nahm er den ersten Zug nach Stralsund. In seinem Rucksack hatte er Schulzeug und Kleider für eine Woche eingepackt. Um 8 Uhr ging es in der Schule los. Jeder musste sich vorstellen. Als Dieter sich vorstellte, gab es Gelächter. Ein Sachse in ihrer Klasse, das konnte nicht gut gehen. Die Lehrer schafften jedoch schnell Ruhe und der Unterricht ging weiter.
«Gibt es in Sachsen keine Friseure?», fragte der Lehrer.
«Doch, aber die schneiden den jungen Leuten moderne Frisuren.»
«Nur nicht noch frech werden, - Sachse! Wir werden sehen was du kannst», am Unterton merkte Dieter, dass er nicht mit einer Vorzugsbehandlung rechnen konnte, aber das war ja für ihn nichts Neues.
Die Unterrichtsstunden wurden unendlich lange. Gegen sechs Uhr war endlich Schluss. Die Schüler von der Insel wurden in Baracken untergebracht. Jede Baracke konnte acht Schüler aufnehmen.
Die Woche in Stralsund wurde für Dieter sehr unangenehm. Sie schikanierten ihn, wo sie nur konnten. Die ländliche Mentalität setzte sich durch, alles war anders. Die langen Haare und der falsch Dialekt, da mussten sich alle gegen ihn stellen. Dazu kam, dass sich die Lehrer ebenfalls alle Mühe gaben, dem Dieter zu zeigen, dass er nicht hierher gehörte. Ohne grossen Lehrerfolg brachte Dieter die Woche hinter sich. Er freute sich aufs Wochenende.
Die Spannungen mit Herr Paul nahmen immer mehr zu. An einem Morgen arbeitete Dieter in einem kleinen Gehöft in der Nähe von Lohme. Er musste einen Holzbalken einkürzen. Keiner der anderen Lehrlinge wollte ihm helfen, den Balken mit der Schrotsäge, die man nur zu zweit bedienen konnte, einzukürzen, also nahm er die Bügelsäge, mit der konnte er alleine arbeiten, was allerdings sehr mühsam war. Herr Paul hatte gesehen wie er sich abmühte und kam ihm zu Hilfe.
«Dazu nimmt man die Schrotsäge!», erklärte er ihm, «das solltest du nun langsam wissen.»
Die Säge hatte er gleich mitgebracht und setzte sie an. Dieter war am andern Ende der Säge bereit. Er wusste, dass das Ansägen nicht einfach war und man mit der Hand das Sägeblatt am Anfang führen sollte. Er traute sich nicht, seine Hand in die Nähe das Sägeblatt zu legen.
«Bist du ein Anfänger!», schrie Paul, «du musst das Blatt mit deiner Pfote führen!»
Vorsichtig führte Dieter das Sägeblatt mit der Hand und zog langsam am Griff, um den Anschnitt durchzuführen. Herr Paul hielt die Säge am andern Ende, plötzlich zog er die Säge mit einem Ruck schnell zurück. Das Sägeblatt sprang aus der Führung und traf Dieters Hand. Der schrie auf und zog die Hand zurück. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Herr Paul um, ging in sein Büro und liess Dieter blutend zurück. Es war niemand in der Nähe, der ihm helfen konnte. Der Schnitt ging bis auf den Knochen und die Wunde blutete stark.
Dieter wusste, er musste so schnell wie möglich zu einem Arzt. Der einzige Arzt den er kannte war in Sassnitz, das waren gut zwanzig Kilometer. Mit dieser blutenden Wunde würde er es nicht schaffen. Er nahm den Lappen, den sie sonst zum Abtrocknen der Hände benutzten und wickelte ihn um die Hand. Von Herr Paul war nichts mehr zu sehen. Das Tuch stoppte die Blutung.
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