Dieter zwang sich, ins Lager zurückzukehren. Diesmal schaute er nicht zurück.
Im Lager warteten die andern Jungs schon ungeduldig auf Dieter, alle waren marschbereit. Der Aufseher warf ihm einen Blick zu, jetzt war die Romantik vorbei, alle mussten zurück nach Deutschland.
Mit schwerem Herzen bestieg Dieter den Zug. Er warf seinen Rucksack aufs Gepäcknetz und öffnete das Fenster. Er konnte Jana nirgends erkennen. Dann, als der Zug langsam anfuhr, sah er sie hinter einem Güterschuppen, sie winkte ihm zu.
«Ich warte auf dich!», schrie sie gegen den Lärm des Zuges ankämpfend. «Ich warte auf dich!»
«Ich auch», rief Dieter zurück, dann bog der Zug um eine Kurve und Jana war nicht mehr zu sehen.
Der Schulanfang war für Dieter die übliche Qual. Er gab sich Mühe, dass Frau Kasche nicht zu sehr enttäuscht war. Doch es gab Fächer, da war einfach nichts zu machen. Staatsbürgerkunde war nicht sein Ding. Mit den Geschichten, mit denen der Sozialismus verehrt wurde, konnte er nicht viel anfangen. Für die Schule war die Staatsbürgerkunde eines der wichtigsten Fächer. Die Jugend sollte für auf die Ideale des Sozialismus begeistert werden. Bei Dieter fiel die Saat auf unfruchtbaren Boden. Alles Andere war ihm wichtiger.
Etwas war Dieter noch aufgefallen, als er aus der hohen Tatra zurückkehrte. Er bemerkte, wie schlecht die Luft in Halle war. Wen man immer in Halle lebte, fiel es nicht auf, doch jetzt, nachdem er zwei Wochen lang frische Luft geatmet hatte, schon. Genauso mit der Saale, in der sie baden mussten, im Vergleich zum Bergsee in der hohen Tatra war es eine stinkende Kloake.
Die Hautkrankheit von Olaf hatte sich so verschlimmert, dass er in ein Sanatorium an die Ostsee gebracht wurde. Dort musste er acht Wochen bleiben. Er hatte furchtbar Heimweh nach Mutti. Als er nach den acht Wochen nach Hause kam, waren seine Flecken am Körper verschwunden, dafür war aus dem einst fröhlichen Buben, ein ernster verschlossener Junge geworden.
Dieter freute sich auf den Sommer, er plante Jana zu besuchen.
«Deine Freundin in der Tschechei kannst du vergessen», meinte ein Schulkollege beim kurzen Schwatz in der Pause.
«Wieso?», wollte Dieter wissen.
«Nun, die Grenze sind zu», erklärte sein Kollege, «die neue tschechische Regierung passt unsern Parteifunktionären nicht, die seien vom Westen unterwandert. Der Dubcek sein ein Verräter, meinen sie.»
«Aber das können die nicht machen», ereiferte sich Dieter, «ich muss diesen Sommer Jana wieder sehen.»
«Das kannst du vergessen», beharrte der Kollege auf seinem Standpunkt, «die haben es in den Nachrichten gebracht!»
Abends schaute Dieter wieder einmal die Nachrichten im Fernseher. Tatsächlich, die DDR-Führung war mit der Regierung von Dubcek nicht einverstanden. Es werden keine Visa an DDR-Bürger für Reisen in die Tschechoslowakei mehr ausgestellt.
Dieter musste den Sommer anderweitig planen. Zuerst war natürlich wieder arbeiten angesagt. Er konnte nochmals vier Wochen im Wagonbau Ammendorf arbeiten. Die restlichen vier Wochen würde er in Halle verbringen. Im Boxklub hatten sie Trainingswochen eingeplant. Es wurde speziell an der Technik gefeilt. Da wurde täglich gut vier Stunden trainiert, so war die Trainingswoche auch gut für die Kondition. Im Herbst standen einige Kämpfe an, da wollte Dieter in Topform sein.
Im August eskalierte die Lage in der Tschechoslowakei. Im DDR-Fernsehen wurde berichtet, dass die Staaten des Warschau Paktes ihre Tschechischen Freunde aufforderten, sich auf die Ideale des Sozialismus zu besinnen und einige, von den subversiven Elementen eingebrachte Gesetzesänderungen abzulehnen.
Am 21. August meldete das DDR-Fernsehen, dass die befreundeten Staaten der Tschechischen Sozialistischen Partei, sie um militärische Unterstützung gebeten hatten. Dieser Hilfe musste gewährt werden. Die befreundeten Truppen unter Führung der Sowjetunion, hätten die Lage im Griff. Alle wichtigen Gebäude der Tschechoslowakei, kontrollieren die befreundeten Truppen.
Aus was diese Unterstützung bestand, sah man am späten Abend im Westfernsehen. Mit Panzern fuhren die Russen durch Prag und machten jagt auf Demonstranten. Die Führer der gewählten Regierung wurden verhaftet und nach Moskau gebracht. Dort wurde an einer Sitzung das weitere Vorgehen besprochen.
Nach zwei Tagen erklärten die politischen Führer der Tschechoslowakei, dass sie die Reformen rückgängig machten. Sie forderten die Bewohner auf, keinen Widerstand gegen die befreundeten Soldaten zu leisten.
Dieter hielt sich aus den Diskussionen raus, Politik interessierte ihn nicht. Er musste nur an die freundlichen Leute in diesem kleinen Dorf in der hohen Tatra denken, was bedeutete das für sie? Er wusste, das Leben nahm dort seinen gewohnten Gang, diese Leute hatten sich nie darum gekümmert, was die in Prag beschlossen.
Der Herbst verging schnell. Boxen und ein bisschen Schule, standen auf dem Programm.
Nach Dieters Sieg an der Bezirksmeisterschaft, wurde er auch für Vergleichskämpfe mit andern Städten aufgestellt. Für seinen Klub Chemie Halle, konnte er jeweils Punkte sammeln. Der Trainer war stolz auf Dieter und hielt ihn für ein grosses Talent. Der Ländervergleichskampf gegen Polen fand in Leipzig statt und Dieter wurde aufgeboten.
Die Gegner aus Polen waren stark. Dieter musste zu Beginn des Kampfes einiges einstecken. Doch sein Siegerwille war nach der ersten Runde noch nicht gebrochen. Zu Beginn der zweiten Runde fühlte sich sein Gegner etwas zu sicher. Dieter landete zwei harte Treffer, welche seinem Gegner zu schaffen machten. Ab diesen harten Treffern verlief der Kampf ausgeglichen. Gegen Ende des Kampfes, entschied Dieter den harten Fight, durch seine beherzten Angriffe aus der sicheren Deckung. Erst in der letzten Minute konnte er den Kampf dominieren, was ihm schliesslich den Punktesieg einbrachte. Die Halle tobte, es war der erste DDR-Sieger in diesem Länderkampf. Die ersten drei Kämpfe hatten die Deutschen verloren. Der Sieg von Dieter brachte die Wende.
Endlich hatte Dieter die achte Klasse abgeschlossen. Nun galt es zu entscheiden, Berufs- oder Boxkarriere. Der Trainer riet ihm, die Boxkarriere fortzusetzen, da er viel Talent zum Boxen mitbrachte. Nur, in der DDR war es nicht möglich Profikämpfe auszutragen. Als Amateur, welcher nicht vom Staat gefördert wurde, konnte man auf kein gesichertes Einkommen kommen. Mit den Eltern entschied sich Dieter notgedrungen, auf die Karte Berufsausbildung zu setzen. Eine Boxkarriere schien einfach zu unsicher.
Nun musste Dieter seine Entscheidung seinem Trainer mitteilen. Dieter kam eine Viertelstunde früher zum Training.
«Herr Friedel», sprach er seinen Trainer an, «kann ich noch etwas mit Ihnen besprechen?»
«Natürlich», erklärte Herr Friedel, «aber erst nach dem Training. Ich warte im Büro bis du mit Duschen fertig bist.»
Zwei Stunden später besuchte Dieter Herr Friedel in seinem kleinen Büro.
«Ich habe mich entschieden», begann Dieter, «ich werde eine Berufsschule besuchen. Mit meinen Eltern haben wir alles besprochen. Ich brauche eine sichere Ausbildung. Ich muss später mein eigenes Geld verdienen und mit boxen ist das nicht gesichert.»
«Schade!», meinte Herr Friedel und klopfte Dieter freundschaftlich auf die Schulter, «ich muss deinen Entscheid akzeptieren, ich verstehe deine Argumente. Ich konnte dir kein besseres Angebot machen. Ich könnte dich in der Sportschule unterbringen, doch langfristig könnte ich keine Garantie abgeben, du müsstest ein Sportstudium beginnen und das bedeutet, nebst dem Sport viel Schule. Ich verstehe, für dich ist das Erlernen eines handwerklichen Berufs sicher besser, du hast es nicht so mit den Schulbücher, ich übrigens auch nicht.»
Die neunte Klasse wurde als Berufsschule geführt. Dieter sollte dort zum Baumaschinist ausgebildet werden. Er freute sich darauf, denn endlich sollte neben dem Unterricht in der Schulstube, auch praktischer Unterricht auf einer Baustelle dazukommen. Das neue Schulhaus lag mitten in Halle. Dieter brauchte mit dem Fahrrad rund eine Stunde.
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