Als ich am 1. August 1984 zu arbeiten begann, war ich der glücklichste Mensch auf Erden. Doch es hieß Abschied nehmen von meinen Großeltern. Von den zwei Menschen, die so Großartiges geleistet hatten, um mein Leben zu verändern. Nur an meinen freien Tagen würde ich nach Hause kommen können. Was mir aber absolut leichtfiel, da ich gleich eine Freundin fand.
Der Beruf war wie für mich geschaffen. Ich stand vor einem unvorstellbar großen Topf mit Kartoffeln und sang beim Schälen. Vom ersten Tag an fühlte ich mich in diesem Haus geborgen, und ich erinnere mich noch, dass ich die pubertären Revoluzzergedanken meiner Kolleginnen in Bezug auf meine Lehrherren nie teilen konnte. Für mich waren die Klugers immer die zwei, denen ich alles erzählte, weil ich mich so freute, dass sie sich für mich interessierten und mich mochten. Und ich bekam von ihnen viel Anerkennung und Lob. Aber sie lehrten mich auch Ordnung, Pünktlichkeit und einen höflichen Umgangston. Ich lernte, Regeln einzuhalten, musste Gebote und Verbote hinnehmen, eine Struktur eben, die mir Sicherheit gab. Aus mir wurde ein disziplinierter Mensch, der es fortan leicht hatte in der Gesellschaft. Ich war ein Kluger-Mädel, immer eine Viertelstunde vor der Zeit am Bestimmungsort, weil Pünktlichkeit Pflicht, geputzte Schuhe ein Muss und Höflichkeit selbstverständlich sind. Nichts, aber auch wirklich gar nichts erinnerte an meine Kindheit.
Ein Riesenplus war, dass ich nicht allein war. Die vielen Lehrlinge verschafften mir die Pufferzone, die ich brauchte. Spaß ohne Ende, der mich vergessen ließ. Der nötige Abstand zum Alkohol, da dieses Haus nur ausgewählte Gäste beherbergte, die gehobene Gastlichkeit zu schätzen wussten, weit entfernt von dem, was ich zuletzt bei meinen Eltern gesehen hatte. Diese angenehm unkomplizierte Atmosphäre ließ meine Seele langsam genesen. Ich lebte und arbeitete sorgenfrei dahin, in der Gewissheit, dass ich alles erreichen konnte, was ich nur wollte, da es an Fleiß nicht fehlte. Und so wurde aus mir ein großer, schlanker, durchaus beliebter, sportlicher Teenager mit schulterlangen, blond gewellten Haaren und blauen Augen. Meine große Leidenschaft galt der Musik, dem Tanz – und Schuhen. In meiner Art war ich absolut unbeschwert, und nichts war für mich ein Problem. Schwierige Gäste waren für mich eine Herausforderung, der ich mich gern stellte. Ich liebte es, wenn sie unser Haus lächelnd verließen. Als besonders wertvoll erachtete ich die akribische Genauigkeit, wenn es um Sauberkeit ging, und die kompromisslose Exaktheit, mit der die Klugers ihre Gäste auf Händen trugen. Sie waren stets gern gesehen, alles war machbar, und jede Bemühung, um sie zufriedenzustellen, war selbstverständlich. Unser Dank war ihre Wertschätzung.
Ja, ich fühlte mich wohl und liebte das Leben. Bei den Burschen stand ich hoch im Kurs, denn mit der Zeit verstand ich es, meinen Matchwinner, meine großen Augen, einzusetzen. Aber die Kluger-Mädels waren nicht leicht zu kriegen. Dieser Ruf eilte uns voraus. Unser Chef hatte ein gutes Händchen für hübsche Lehrmädchen. Die jungen Männer wähnten sich also im Paradies, wenn sie unser Lokal betraten. Dementsprechend viele scharten sich am Wochenende an der Schank, um uns zu bewundern und uns den Hof zu machen. Wir Mädchen genossen es – und blieben unnahbar. Taktisch genial würde ich meinen! Und so wollte es wohl so sein, dass ich meiner ersten großen Liebe begegnete.
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich an dieser Stelle an einen Psychologen wenden, professionelle Hilfe suchen. Denn aus heutiger Sicht weiß ich, dass mir damals nicht bewusst war, wie viel ich eigentlich noch an mir zu arbeiten gehabt hätte. All die Dinge, die ich erlebt hatte, blieben unausgesprochen. Ich war wie ein Vulkan, der vor sich hin brodelte, um erst Jahre später zum Ausbruch zu kommen. Von psychologischer Bewältigung, wie man es heute als selbstverständlich erachtet, war damals noch keine Rede. Gefühle wurden nicht ausgesprochen. Ich agierte, so gut ich eben konnte. Was einerseits nicht das Schlechteste war, weil es mich vergessen ließ. Aber mit dem Thema Liebe kamen teilweise die Erinnerungen an meine Vergangenheit zurück. Ich war verunsichert. Wie sollte ich meinen Weg gehen in einer Beziehung, in Sachen Liebe? Ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Auf jeden Fall alles besser machen als meine Eltern, dachte ich und machte dieses Ziel zu meinem Gesetz. Mein Schwur, damals auf der Schaukel, war tief in mir eingebrannt, und so kam ich zu dem Schluss, dass der Mann meiner Träume auf keinen Fall Alkohol trinken dürfe. Das müsste reichen. In meiner Naivität war dieser Vorsatz gut gemeint, erfüllte allerdings nicht einmal annähernd das, was es für ein glückliches und harmonisches Familienleben braucht.
Die Worte Liebe, Achtung, Respekt, Toleranz, Ehrlichkeit, Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft blieben mir zur Gänze verborgen. Dass ich als Person auf all das ein Anrecht hatte. Auf all diese wunderbaren Eigenschaften. War ich ja seit jeher anders behandelt worden. Damit hätte ich gar nicht umgehen können. Ich gab – und das von Herzen gern. Aber zurückbekommen – diesen Anspruch stellte ich nicht. Ich vermisste also auch nichts. Mein erster Freund behandelte mich schlecht. Ich jedoch fand alles in Ordnung, denn er trank nicht. Es war für mich nicht tragisch, wenn er mich auslachte, mich verhöhnte. Wird schon werden, dachte ich, wenn wir uns erst einmal näher kennen, dann wird er mich bestimmt schätzen lernen. Und ich verzieh ihm. Für all sein Tun und Handeln, sein schlechtes Benehmen mir gegenüber suchte ich Entschuldigungen. Die Situation ähnelte meinem Schweigen in der Schule, als ich glaubte, dass ich es verdienen würde, ausgelacht zu werden, weil ich ja zu dumm für alles wäre. Seine rüpelhafte Art gab mir wohl zu denken, aber ich suchte die Fehler bei mir und wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass er sich mir gegenüber gelinde gesagt wie ein Schwein verhielt. Erst als er eng umschlungen mit seiner neuen Flamme, die eigentlich noch gar nicht hätte existieren dürfen, da ich ja noch seine Freundin war, vor mir stand, fiel ich aus allen Wolken. Aber schon mein zweiter Gedanke war: Jetzt hast du wirklich alles verkackt. Die Schuld lag bei mir. Ich zerbrach mir den Kopf, warum es denn so weit hatte kommen können, aber ich fand keine schlüssige Antwort, hatte ich doch immer mein Bestes gegeben. Also erledigte sich die Geschichte mit dem tröstenden Gedanken: Soll halt nicht sein!
Schade, dass ich damals nicht dahintergekommen bin, denn dieses Nichterkennen sollte mir später weit mehr Schaden zufügen. Denn Amors Pfeil traf mich nur ein paar Monate später weit verhängnisvoller, als er es beim ersten Mal getan hatte.
Es war der Mann, der alles veränderte. Der mir die größte Freude meines Lebens machen, mir aber auch die schlechteste Zeit bescheren sollte. Der Mann, mit dem ich eine Familie gründete.
Ich lernte Frank gegen Ende meines zweiten Lehrjahrs kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir begegneten uns auf einer Stiege. Ich war von ihm so angetan, dass ich nicht mal registrierte, wie klein er war. Ich sah nur dieses Lächeln, diesen Charme, die großen Augen – und es war um mich geschehen.
Er war Musiker, und ich himmelte ihn an. Mein Gott! Er war wie mein Vater, nur dass er nicht trank. Was wollte man mehr? Er hätte wirklich jede haben können – der Bandleader, der auf der Bühne steht, den alle anhimmeln. Aber nein, er entschied sich für mich, dieser fesche, lebenslustige, sportliche, ehrgeizige junge Mann. Noch dazu hatte er einen guten Bürojob, also auch ein gesichertes Einkommen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Es war perfekt! Einfach perfekt, auch weil wir uns die Liebe zur Musik teilten. Dass das unsere einzige Gemeinsamkeit war, das bemerkte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Er hatte auch bei meinen Großeltern und bei meinen Chefs einen guten Eindruck hinterlassen. Ich fühlte mich so unbeschreiblich gut, und wir wurden ein Paar.
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