Anja Kuemski
Strullkötters Gastmahl
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Inhaltsverzeichnis
Titel Anja Kuemski Strullkötters Gastmahl Dieses ebook wurde erstellt bei
Teil I Teil I 1944
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil II
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Impressum neobooks
1944
30. September 1944
Die Sonne strahlte an diesem späten Samstagvormittag unbekümmert über die Häuserzeilen entlang der Detmolder Straße. Die beinahe sommerlichen Temperaturen lockten viele Bürger vor die Haustür, Kinder spielten unbeschwert auf der Straße, in den Gärten wurde geerntet, was man zuvor zum Eigenbedarf angebaut hatte. Hühner gackerten, wo einst Rosenstöcke gestanden hatten. Der Sinn fürs Praktische war dem Westfalen an sich schon immer zur Hilfe gekommen, wenn es drauf ankam.
Oberleutnant Kattenstroth wurde hier und da freundlich begrüßt, er war in der Nachbarschaft bekannt. Wenn man nicht so genau hinsah, hätte man sich einreden können, dass Frieden herrschte. In diesem Teil der Stadt sah alles noch recht gut aus, aber andere Viertel hatten schon Schaden genommen, hier und da wirkte Bielefeld wie ein schadhaftes Gebiss.
Die Bombenangriffe der letzten Wochen und Monate hatten zwar bisher weit weniger Schaden angerichtet als in manch anderer Stadt des Reiches, aber auch in Bielefeld hatte man einsehen müssen, dass der Krieg keinesfalls nur weit entfernt im Osten oder Westen stattfand. Auf seiner Reise von der Ostfront nach Hause vor ein paar Tagen hatte er weit Schlimmeres gesehen, aber hier in der Stadt berührte es ihn stärker, als er sich selber eingestehen wollte.
Sein Heimaturlaub würde nur ein paar Tage dauern, bis er sich ausreichend von der Verletzung erholt hatte. Eigentlich hatte er keine akuten Beschwerden mehr, nur noch solche, die wohl niemals mehr besser würden, aber er vermutete, der Stabsarzt hatte ihn mal vorübergehend aus der Schusslinie nehmen wollen. Buchstäblich. Gleich nachdem ihm das Eiserne Kreuz an die Brust geheftet worden war, hatte man ihn auf Heimaturlaub geschickt.
'Kurieren Sie sich aus, Kattenstroth. Wir können besser für ein paar Tage auf Männer wie Sie verzichten, als wenn Sie dauerhaft ausfallen, weil Sie sich zu viel zumuten', hatte der Lazarettarzt gesagt.
Wenn er ehrlich war, tat das Bein schon noch weh, aber es gab andere Soldaten, die mit weit schlimmeren Verletzungen gleich wieder zurück an die Front beordert wurden. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sich schonte, während seine Männer seit Wochen unter Dauerfeuer lagen. Zumindest die wenigen, die überhaupt überlebt hatten. Aber Befehl war Befehl und es wäre ihm kaum möglich gewesen, seiner Mutter zu erklären, dass er freiwillig auf ein paar Tage Heimaturlaub verzichtet hatte, von seiner Frau Malwine gar nicht zu reden. Sie hatten sich so sehr gefreut, als er vor drei Tagen unerwartet vor ihrer Tür gestanden hatte. Nur der kleine Alwin hatte sich vor Angst hinter seiner Mutter versteckt. Und das war es, was er ihn wirklich an diesem Krieg verzweifeln ließ.
Es war das allererste Mal, dass er seinen Sohn überhaupt sah. Der Junge war drei Jahre alt und er hatte nichts davon mitbekommen. Weder die ersten Schritte, noch die ersten Worte. Er war ein Fremder für seinen eigenen Sohn. Je eher der Krieg vorbei war, desto besser. Aber er würde sich hüten, diesen Gedanken laut auszusprechen.
Mit ansehen zu müssen, wie die Familie sich abplagte, während er nichts tat, behagte ihm aber nicht. Also hatte er einfach mitgeholfen im Geschäft, so wie früher auch. Gestorben wurde eben immer, ob Krieg oder nicht, hatte schon sein Großvater stets betont, wenn es darum ging, welchen Beruf er sinnvollerweise ergreifen sollte. Die Familie hatte schon immer in der Branche gearbeitet, so weit man den Stammbaum überhaupt zurückverfolgen konnte, schon zu einer Zeit, als man noch Leichenfrauen dafür in der Stadt beschäftigte. Jetzt, wo die Bomben auch auf Bielefeld fielen und allein die Organisation des Alltags so viel mehr Zeit in Anspruch nahm, gab es für die Bestatter so viel zu tun, dass man froh war, eine zusätzliche Hand zu haben. Buchstäblich eine Hand. Die Linke war nicht mehr wirklich zu gebrauchen. Erfrierungen in allen Fingern.
Dabei hatte er noch Glück gehabt, denn die Füße waren noch einigermaßen verschont geblieben. Zumindest hatte es gereicht, um tagelang durch die verschneiten Weiten Russlands zu laufen, nachdem der Großteil seiner Division vernichtet worden war. Das hatte das Oberkommando aber nicht davon abgehalten, ihm noch einen Orden anzuheften. Medaille für die Winterschlacht im Osten. Gab es, wenn einem die Gliedmaßen abgefroren waren und man trotzdem noch kämpfte. Ganz schön dämlich eigentlich. Und bei der Gelegenheit hatte es dann auch noch das Infanterie-Sturmabzeichen in Silber gegeben.
Was er mit dem ganzen Zeug sollte, wusste er nicht. Natürlich machte es hier und da Eindruck auf manche Leute, aber satt wurde man davon auch nicht. Und eigentlich lag es nicht mal in seiner Absicht, irgendjemanden beeindrucken zu wollen. Wozu auch. Für ihn galt es, diesen Krieg irgendwie zu überleben. Erst recht, nachdem er gesehen hatte, wie schwer es für die Familie zu Hause war, über die Runden zu kommen. Lange konnte es doch nun wirklich nicht mehr dauern.
Der Russe drängte sie gnadenlos zurück, im Westen musste man ebenfalls immer mehr ausweichen vor der Übermacht der Alliierten. Da konnte der feine Herr Hinkebein im Reichsrundfunk noch so viel plärren vom totalen Krieg und vom Endsieg. Er glaubte nicht mehr daran. Es sollte einfach nur noch vorbei sein. Kattenstroth musste grinsen. Gut, dass die Partei noch kein Mittel gefunden hatte, die Gedanken zu kontrollieren, sonst würde er gleich abgeholt. Einfach von der Straße in ein Auto gezerrt. Ein schwarzes. Unbedingt ein schwarzes Auto. Die Gestapo hatte heimlich doch zu viele Hollywood-Filme geschaut.
Er hatte auch daran geglaubt, an die Notwendigkeit, dem Kommunismus etwas entgegenzusetzen, an den Anspruch des Führers, Deutschland wieder auf eine Augenhöhe zu bringen mit den anderen Mächten in Europa und an die Hoffnung, dass mit einem starken Mann an der Spitze alles besser werden würde. Er war vaterlos aufgewachsen, ein dreijähriger Halbwaise.
Der große Krieg war damals so unvorstellbar für ihn gewesen und doch im Vergleich zu dem, was er nun selbst erlebt hatte, nur eine vage Erinnerung, die im Sperrfeuer des Feindes endgültig verblasst war. Aber er erinnerte sich an die Zeit vor Hitler, als auf den Straßen das reinste Chaos herrschte, man kaum noch wusste, wer da gerade auf wen eindrosch. Wie so viele andere hatte er geglaubt, dass nur mit starker Hand wieder Ordnung geschaffen werden könnte. Und war es nicht auch tatsächlich so gekommen? Hatte es nicht anfangs ausgesehen, als würde wirklich alles besser?
Was er damals nicht gesehen hatte oder nicht sehen wollte, war, dass sich diese Verbesserungen nur auf Kosten anderer erreichen und bewahren ließen. Als aber Männer wie Eduard Pannhorst plötzlich Karriere machen konnten, innerhalb weniger Jahre vom Gehilfen in einer Senfmühle zum Ortsgruppenleiter, das hatte ihm schon zu denken gegeben.
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