Wenn man sich bedingungslos in den Dienst der Partei stellte, standen einem alle Türen offen. Man musste nur rücksichtslos genug sein, alle anderen beiseite drängen zu wollen oder sich bei den richtigen Leuten anzubiedern. Aber das war für ihn selber nie infrage gekommen, nicht nur, weil er keinerlei Interesse an einer Karriere hatte, sondern vor allem, weil seine Mutter von Anfang an vor dem Mann mit dem lächerlichen Bärtchen gewarnt hatte. Das war ihre einzige Art, von Hitler zu reden. Der Mann mit dem lächerlichen Bärtchen.
Es hatte ihn und Malwine einige Mühen gekostet, die Mutter davon zu überzeugen, so etwas vielleicht zu denken, aber besser nicht mehr auszusprechen. Seine Mutter war so tief in der Kirche verwurzelt, dass es ihr nie in den Sinn gekommen wäre, sich einer Bewegung anzuschließen, deren Verhältnis zur Kirche gelinde gesagt fragwürdig war.
Seit gestern hatte er außerdem noch den vagen Verdacht, dass seine Mutter eventuell in illegale Aktivitäten verstrickt sein könnte. Bevor er wieder abreiste, musste er unbedingt noch einmal ein warnendes Gespräch mit ihr führen. Wenn seine Vermutung stimmte, dann benutzte sie Trauerfeiern, um den kirchlichen Widerstand zu unterstützen. Was genau sie da alles tat, wollte er lieber nicht wissen. Insgeheim bewunderte er sie dafür, aber wenn es herauskam, waren sie alle dran. Er musste eben auch an Malwine und Alwin denken, selbst wenn er innerlich mit dem Verhalten der Mutter durchaus einverstanden war.
Als er gestern die Einladung zum Mittagessen bei Heinrich Strullkötter bekommen hatte, war er mehr als überrascht gewesen. Tatsächlich war sein erster Gedanke, dass es eine Falle sein könnte und man ihn wegen Wehrkraft zersetzender Gedanken verhaften würde, sobald er dessen Haus betrat.
Immerhin war Fabrikant Strullkötter Parteimitglied und verstand sich ausgezeichnet mit den örtlichen Nazi-Größen. Seine Mutter und seine Frau hatten sich auch gewundert, weil doch der Pannhorst da ein und aus ging. Und der hatte die Familie Kattenstroth noch nie leiden können. Ortsgruppenleiter Pannhorst konnte offenbar nicht verwinden, dass Malwine damals lieber einen Bestatter geheiratet hatte, anstatt einen Parteigänger mit großer Karriere.
Sein erster Gedanke war also gewesen, nicht hinzugehen. Aber Malwine hatte ihn ausgelacht und gemeint, dass man so viele Hintergedanken nicht mehr erwarten könne von den Goldfasanen. Wenn die ihn hätten verhaften wollen, wäre das längst geschehen. Eine Falle brauchten die niemandem mehr zu stellen. Stattdessen hatte sie ihn gedrängt, die Einladung anzunehmen, denn es könne ja nicht schaden, so zu tun, als gehe man einigermaßen konform mit den Parteibonzen.
Das hatte ihm nicht behagt, er wollte sich eigentlich nicht von denen vereinnahmen lassen. Es musste reichen, dass er sein Leben für Volk, Vaterland und Führer aufs Spiel setzte. Für Letzteren vor allem. Vom Volk und vom Vaterland würde bald wahrscheinlich sowieso keiner mehr sprechen. Und ob der Führer in seinem Bunker überhaupt noch etwas davon mitbekam, was in seinem Reich vor sich ging, wer konnte das schon sagen.
Nach wie vor gab es eine Menge Gerüchte, die besagten, dass das Attentat sehr wohl Spuren hinterlassen habe und es um die Gesundheit des Führers nicht gut bestellt war. Stattdessen traten seine Paladine immer häufiger in Erscheinung und das machte es auch nicht besser.
Kattenstroth konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie eine Zeit nach dem Krieg aussehen würde, aber noch weniger konnte er sich vorstellen, wie das Reich ohne Hitler existieren sollte, und er hatte den starken Verdacht, dass es auch sonst niemand konnte, einschließlich des Führers.
Kattenstroth hatte sich erst noch die Bombenschäden in der Innenstadt angeschaut, was ihm sehr nahegegangen war, und ging nun die Detmolder Straße hinunter Richtung Brands Busch. Es war angenehm warm und nicht sehr weit bis zu seinem Gastgeber.
Die Fabrik Strullkötter lag gleich gegenüber der Gaststätte „Zum Schwan“. Kurz war er versucht, lieber dort zu Mittag zu essen. Andererseits gab es in den meisten Gaststätten nur noch wenige Speisen, die Zuteilung per Bezugsmarken war keine Garantie, dass man überhaupt etwas Anständiges anbieten konnte. Es hatte sogar einen Erlass gegeben, dass Gastwirte zweimal in der Woche ausschließlich Gerichte anbieten durften, die es auch im Feld für die Soldaten gab. Wer dachte sich nur so etwas aus? Da kam man als Soldat in die Heimat, wollte sich nur einmal mit etwas Anständigem satt essen und dann gab es im Gasthaus Feldküchenfraß. Also folgte er wohl doch besser der Einladung.
Es war anzunehmen, dass Strullkötter seine Verbindungen dazu nutzte, seinen eigenen Speiseplan ordentlich auszustatten. Wenigstens wurde er mal richtig satt, wenn er sich schon mit den örtlichen Parteigrößen an einen Tisch setzen musste. Zumindest war nicht zu erwarten, dass er der einzige Gast sein würde. Sein Verdacht, verhaftet zu werden, war in der Tat eher unwahrscheinlich, aber ohne Grund eingeladen zu werden, ebenfalls. Irgend etwas musste Strullkötter sich davon versprechen. Sie kannten sich nur flüchtig, wie man sich eben kannte, wenn man sein Leben lang in der Nachbarschaft gewohnt hatte.
Er nahm nicht an, dass man von ihm einen schonungslosen Bericht von der Ostfront hören wollte. Vielleicht sollte er aufhören, sich darüber Gedanken zu machen und es einfach nur hinter sich bringen. Andererseits war es dringend geboten, auf der Hut zu sein. Man konnte nie wissen, wann sich die Goldfasane auf den Schlips getreten fühlten. Ein falsches Wort und die ganzen Orden an seiner Brust waren nichts mehr wert.
Er hatte sie auf Drängen Malwines auf Hochglanz poliert und an seine Uniform geheftet, obwohl er sie eigentlich nicht gern trug. Für ihn waren sie weniger ein Zeichen besonderer Tapferkeit, als vielmehr ein Symbol dafür, überlebt zu haben, im Gegensatz zu den meisten Kameraden aus seiner Division. Die hatte vor etwa drei Monaten einfach aufgehört zu existieren. Ausgelöscht. Nur eine handvoll Soldaten hatten sich retten können. Er fühlte sich schuldig. Er hätte mit seinen Kameraden dort sterben sollen. Stattdessen würde er mit Bielefelder Nazi-Größen an einem Tisch sitzen, sich mit feinen Damast-Servietten die Schildkrötensuppe von den Lippen tupfen und über den Endsieg schwafeln.
Er blieb stehen. Sollte er wirklich hingehen? Noch konnte er einfach wieder kehrtmachen. Aber was sollte er Malwine erzählen? Konnte er die Situation seiner Familie verbessern, wenn er da hinging? Würden sie dann Nahrungsmittel ohne Lebensmittelkarte bekommen?
Alwin war ein wenig kränklich, etwas besseres Essen wäre also durchaus ein lohnenswertes Ergebnis, wenn er sich schon dazu hergab. Er musste auch daran denken, dass er der Familie zusätzlich auf der Tasche lag. Es gab für ihn keine Bezugskarte, sie mussten ihn von den Zuteilungen der anderen mitversorgen. Da sollte er wohl besser jede Gelegenheit nutzen, woanders zu essen. Am Ende wollte Strullkötter sich vielleicht einfach nur mit einem Kriegshelden schmücken.
Kriegsheld. Er konnte sich selbst kaum ertragen. Er fand es falsch, eine Anstecknadel dafür zu bekommen, dass er nicht gestorben war. Er hätte sterben müssen, genau wie der Soldat, der nur wenige Schritte vor ihm zerfetzt worden war. Die Druckwelle hatte ihn von den Füßen gerissen. Und nur das war der Grund, warum er noch am Leben war. Die Mutter oder die Ehefrau jenes Soldaten würde nichts bekommen als einen kurzen Brief.
Er hatte nach der Hand des Toten gesucht, um wenigstens den Ehering zu bergen. Er wusste, Malwine hätte sich gewünscht, wenigstens den Ring zu bekommen, wenn er gefallen wäre. Aber er hatte die Hand nicht finden können. Und dann war er einfach umgefallen. Ein paar Kameraden hatten ihn aufgesammelt und ein gutes Stück getragen, weg von der Front, weg von den unzähligen Toten. Sie hätten den Orden verdient, nicht er.
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