„Wo wohnen die eigentlich?“, fragte der Redakteur.
„Auf dem Fabrikgelände. Ich habe eine der Hallen, die für die Produktion derzeit nicht benötigt wird, als Wohnbereich eingerichtet. Denen geht es gut bei mir.“
„Na, hoffentlich nicht zu gut. Es kann ja nicht angehen, dass das deutsche Volk Hunger leiden muss, damit wir die Ostarbeiter mit durchfüttern können. Da müssen Sie dringend aufpassen, Strullkötter“, mahnte der Ortsgruppenleiter.
„Aber Herr Pannhorst!“, mischte sich Kattenstroth nun doch ein. „Sie wollen doch damit nicht wirklich sagen, dass das deutsche Volk tatsächlich Hunger leidet? Die Zuteilungen der Lebensmittelrationen sind an höchster Stelle bemessen worden. Denken Sie, man hat sich dort geirrt?“
Eduard Pannhorsts Gesichtsfarbe wechselte in rascher Folge von blass zu tiefrot.
„Das … das … natürlich würde ich das nie behaupten. Selbstverständlich hat das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft die Versorgung bis ins kleinste Detail hervorragend berechnet.“ Dann schien er Morgenluft zu wittern. „Aber Sie müssen doch zugeben, dass es eine zusätzliche Belastung für unser Volk darstellt, wenn wir dieses Pack mit durchfüttern müssen.“
„Wir haben diese Leute doch aber selber hergeholt.“
„Weil wir Arbeitskräfte brauchten. Dadurch wurden Arbeiter für den Kriegsdienst freigesetzt, das wissen Sie doch, Kattenstroth. Und wenn jetzt der Volkssturm kommt, dann müssen eben alle ran.“
„Ist das sicher?“, fragte der Oberbaurat, der sich bisher vornehm zurückgehalten und eher dem Wein gewidmet hatte.
„Der Führer will ihn, Goebbels hat ihn schon ausgerufen, wenn auch noch nicht offiziell“, erklärte der Redakteur mit weltmännischer Geste. „Kann sich aber nur noch um wenige Tage handeln, die meisten Städte heben schon aus, richtig Herr Ortsgruppenleiter?“
„Das stimmt. Bormann hat Anweisungen zur Durchführung geschickt. Wir sind natürlich entschlossen, diesen in allen Punkten nachzukommen. Bis Mitte Oktober soll ein Bataillon bereitstehen.“
„Und werden Sie sich selber dann rekrutieren? Als Vorbild sozusagen?“
Frau Strullkötter ließ nach wie vor nicht erkennen, ob sie es ernst meinte oder den Parteifunktionär verspottete. Kattenstroth musste anerkennen, dass sie darin weitaus geschickter vorging als er selber. Er prostete ihr lächelnd zu, was sie ebenso erwiderte.
„Ich habe andere Aufgaben, gnädige Frau, aber das sind militärische Details, mit denen ich Ihr hübsches Köpfchen nicht belasten möchte.“
„Ach, belasten Sie ruhig, mein Bester, belasten Sie ruhig“, mischte sich der Gastgeber ein. „Meine Frau versteht eine Menge von Strategie und Buchhaltung. Und darum geht es hier doch, oder nicht? Es geht immer nur um Zahlen. Ob Menschen, Getreide oder Schleifköpfe, das ist ganz egal. Zahlen regieren die Welt.“ Strullkötter erhob sein Glas und prostete einmal in die Runde.
„Ich bin nicht sicher, ob der Führer mit dieser Einschätzung einverstanden wäre“, beharrte der Ortsgruppenleiter. „Immerhin führen wir vor allem deshalb Krieg, weil man ihn uns aufgezwungen hat. Der Führer selber hat immer wieder betont, dass er den Frieden wollte, aber das internationale Judentum hat die Völker gegen uns aufgehetzt. Wir müssen uns doch wohl verteidigen.“
„Also, der Dr. Goebbels hat aber schon gefragt, ob wir den totalen Krieg wollen, oder?“ Fräulein Winter war offenbar nur teilweise dem Gesprächsverlauf gefolgt. „Ich war ja leider nicht dabei, als er im Sportpalast gesprochen hat. Da habe ich hier die Ophelia geprobt.“
„Ach ja? Ich kann mich gar nicht erinnern, Sie im Hamlet gesehen zu haben.“
Frau Strullkötter ließ sich nicht anmerken, ob sie das bedauerte oder nicht.
„Ich wurde leider krank und meine zweite Besetzung musste mich ersetzen.“
„Die gesamte Spielzeit?“
Beleidigt nahm die junge Künstlerin einen großen Schluck Wein.
„Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr im Theater gewesen“, verkündete Frau Hartung. „Es stört den Kunstgenuss doch erheblich, wenn man mittendrin hinauslaufen muss, weil Fliegeralarm ist.“
„Aber wir haben danach doch immer weiter gespielt“, erklärte Fräulein Winter. „Und die meisten Zuschauer kamen zurück, wenn der Alarm vorbei war. Das ist schon ganz schön aufregend gewesen. Ich bin gespannt, wie das beim Film sein wird. In den UFA-Studios ist man ja sicherer, nehme ich an.“
„Dann drehen Sie wirklich mit Gründgens?“, fragte der Redakteur etwas ungläubig.
„Also, nicht direkt. Aber er dreht auch dort, gleichzeitig mit uns.“
„Na, das hörte sich eben aber noch ganz anders an“, murrte die Heimatdichterin.
„Ich habe nie behauptet …“, begann Thea Winter und schaute Hilfe suchend die anderen Gäste an.
„Sie haben das Missverständnis aber auch nicht aufgeklärt, als ich Sie eben dem Oberleutnant vorgestellt habe“, beschwerte sich nun auch Frau Strullkötter mit sichtlicher Genugtuung.
Kattenstroth vermutete, dass die junge Schauspielerin eher auf Wunsch des Gatten anwesend war.
„Meine Damen, das ist doch vollkommen unwichtig“, beschwichtigte der Hausherr dann auch sogleich mit einem wohlwollenden Lächeln an die junge Frau. „Fräulein Winter wird eine große Karriere beim deutschen Film machen, da besteht doch kein Zweifel. Wenn sie doch schon mit dem Goebbels diniert.“
„Oder war das vielleicht auch nur ein Missverständnis?“, beharrte Frau Hartung.
„Da gibt es ja ein Beweisfoto“, ergriff nun auch Pannhorst Partei für die hübsche junge Frau.
Der Redakteur hingegen machte eine vage Geste des Zweifels.
„Bilder sind manchmal irreführend. Gewiss, wir sehen das werte Fräulein an der Seite unseres geschätzten Propagandaministers, aber man weiß ja, dass er sich gern mit hübschen jungen Schauspielerinnen umgibt.“
„Wollen Sie damit etwa andeuten, dass ich …, dass ich …“, empörte sich die junge Frau wenig überzeugend.
„Mein lieber Wichmann, ich finde es in der Tat auch recht bedenklich, was Sie unserem Minister da unterstellen. Er ist immerhin einer der engsten Vertrauten unseres Führers.“
Der Ortsgruppenleiter gab sich weltmännisch, aber Kattenstroth wusste, dass er nur darauf lauerte, jemanden des Verrats am Führer bezichtigen zu können. Er würde dabei auch nicht Halt machen vor einem linientreuen Schreiberling, wenn er dadurch seine eigene rückhaltlose Treue zum Führer herauskehren konnte. Auch Wichmann schien sich dessen bewusst zu werden, denn er versuchte die Lage zu retten.
„Das ist aber doch kein Geheimnis, Herr Ortsgruppenleiter, es gibt ja eine Menge Bilder, die das belegen. Und ich bin sicher, Dr. Goebbels selber würde das in keiner Weise bestreiten. Er hat eben oft zu tun mit all diesen Schauspielerinnen, das bringt sein Ministeramt ja nun mal mit sich. Und wer würde an seiner Stelle nicht auch die Schönheit der jungen Damen bewundern? Es ist ja letztendlich ein Kompliment für die deutsche Frau, die sich hinter all diesen Hollywood-Darstellerinnen nicht verstecken muss, ganz im Gegenteil.“
Er lächelte die hoffnungsvolle Nachwuchsschauspielerin mit Kennerblick an. Die fühlte sich offenbar nur wenig geschmeichelt und schmollte noch etwas. Verständlicherweise war sie nicht beglückt darüber, dass man zwar bereit war, den Ruf des Propagandaministers zu beschönigen, sie aber weiterhin als Flittchen dastand.
Kattenstroth hatte zu all dem sicherheitshalber gar nichts gesagt, denn es war ihm erstens vollkommen egal, ob die junge Frau ihre Karriere zu beschleunigen versuchte, indem sie die Nähe zum Propagandaminister suchte, und zweitens gab es keine Möglichkeit, irgendetwas zu dem Thema beizusteuern, was Pannhorst nicht gegen ihn auslegen würde.
Frau Strullkötter beendete schließlich wirkungsvoll die sinnlose Debatte, indem sie ihr Glas hob, und Fräulein Winter zuprostete.
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