Der ganze Hang hinter ihr war in Bewegung geraten und Bérénice hatte genügend Lawinen aller Art gesehen, sodass sie wusste, dass nun jede Sekunde zählte. Das schwerere Material und der relativ flache Winkel trugen dazu bei, dass die Lawine nur langsam an Fahrt gewann. Aber sie tat es. Die Geräusche hinter ihr wurden lauter und sie hatte dazu den Eindruck, dass sie näher kamen, aber sie verschwendete keinen Blick zurück. Mit aller Kraft hetzte sie nun den Berghang hinunter und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Ein Taumeln, ein falscher Tritt und sie würde unweigerlich stürzen. Und wenn sie einmal lag – selbst, wenn sie Zeit genug hätte, wieder aufzustehen –, die Lawine würde sie einholen und verschlingen. Ein hastiger Blick nach vorne zeigte ihr an, dass sie vielleicht noch ein Viertel der Strecke vor sich hatte, aber das wäre nicht das Ende der Gefahr. Die schwarze Staub- und Steinflut hinter ihr würde sicher noch weiter rutschen, bis sie endlich zur Ruhe käme. Also brauchte sie irgendeine Zuflucht, einen großen Brocken, hinter dem sie in Deckung gehen konnte, um wenigstens nicht erschlagen und verschüttet zu werden. Aber weit und breit war da keiner.
Sie blickte verzweifelt nach links und rechts und tatsächlich lag etwa 80 Meter vor und halb links von ihrer Route ein geeigneter Kandidat.
Verdammt! Den werde ich nicht mehr schaffen, aber versuchen muss ich es!
Das Rumpeln im Rücken jagte ihr eine Heidenangst ein. Sie rief ihre letzten Energiereserven ab und legte noch mal an Tempo zu.
Noch fünfzehn Meter …
In ihren Augenwinkeln tauchten bedrohliche Schatten auf und ihren Kopf, Rücken und Arme trafen kleine, an den Kanten messerscharfe Geschosse.
Vier Meter.
Mit einem mächtigen Sprung hechtete sie genau in dem Moment hinter den Brocken, als die Lawine sie erreicht hatte. Trotzdem riss die Flut Bérénice die Beine herum und sie schlug hart mit dem gestreckten Körper in den Staub. Im Reflex zuckten ihre Hände nach oben, um ihren Kopf zu schützen, dann wurde es schlagartig stockfinster um sie herum. Das Krachen aneinanderschlagender Felsen und Steine klang wie das Trommelfeuer mittelalterlicher Kanonenkugeln. Jedes Mal, wenn ein kleinerer Brocken mit lautem Knall an ihrer Deckung zerbarst, versuchte sich Bérénice tiefer in den Boden zu ducken. Sie hielt natürlich Augen und Mund geschlossen, aber der feine Kohlenstaub drang ihr sofort durch die Nase in den Rachen und erzeugte den heftigsten Hustenanfall, den sie je in ihrem Leben erlitten hatte. Tränen schossen ihr aus den geschlossenen Lidern, die Augäpfel brannten höllisch, und wenn sie die Hände ans Gesicht gebracht hätte … sie hätte sich die Augen ausgekratzt. So jedoch schlug sie mit aufsteigender Panik wild um sich, um einen, wenn auch noch so kleinen Freiraum zu halten, aber es half nichts. Innerhalb einer Minute schob sich Kohlenmaterial in allen Varianten zu einem schwarzen Sargdeckel zusammen. Von einem Moment zum anderen war es ihr jedoch wieder möglich einzuatmen, und ihre Lungen sogen gierig die mit Ruß geschwängerte Luft ein. Sofort spürte sie erneuten Hustenreiz, doch bevor sie loslegen konnte, traf sie ein Hammerschlag an der linken Schulter. Ein hartes, hässliches Knacken, glühender Schmerz und jähe Todesangst kündeten von zerbrochenen Knochen, dann sank sie endgültig nieder.
Jetzt werde ich sterben, dachte sie und spuckte schwarzen Schleim. Schade …
Dann schwanden ihr die Sinne.
Taubheit.
Undefinierbare Geräusche.
Dunkelheit, durchzogen von vagen Schemen, die an ihren geschlossenen Lidern vorbeizogen.
Beklemmung, nein, völlige Unbeweglichkeit.
Das waren die ersten Wahrnehmungen, welche Bérénice Savoy durchfluteten, als sie sich mit quälender Langsamkeit vom Tode zurück ins Leben kämpfte. Ihr Kopf dröhnte, das Blut pochte kräftig durch ihre Adern und das Denken fiel ihr schwer. Ihr Versuch, den Mund zu öffnen, scheiterte kläglich. Irgendetwas steckte ihr im Mund, bis tief hinunter in ihrem Hals.
Ich atme …
Träge, wie dicker Schleim, zogen Gedankenfetzen durch ihren Schädel. Sie versuchte einen einzigen davon klar zu definieren, aber es gelang ihr nicht. Langsam, mit nervenzerfetzender Lahmarschigkeit, krochen Bildfragmente, Töne, Gefühle, sich drehend, windend, ja flüchtend durch ihren Kopf.
Ich lebe noch.
Bérénice hatte kein Zeitgefühl. Nichts um sie herum gab ihr nur den kleinsten Hinweis darauf, wie viel Zeit verstrichen war. Auf jeden Fall kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, ehe sie zu einem ersten vernunftbegabten, stummen Resümee fähig war.
Ich habe diese Scheißlawine überlebt. Und sofort danach: In meinem Mund steckt etwas, das mir das Atmen ermöglicht. Jemand hat mich gefunden!
Wieder schwirrten schattengleiche Fragmente, optische Eindrücke und nicht hörbare Laute durch ihren Geist und für eine Sekunde fiel sie in Panik. Dann fing sie sich wieder.
Es waren garantiert keine Sambolli, die hätten mir … die Givvianer!
So musste es sein. Der oder die Givvianer mussten sie gerettet haben, niemand anderes kam dafür infrage. Die letzte Sekunde vor ihrem Tod – ihrer Bewusstlosigkeit – drängte sich an die Oberfläche ihrer Verwirrung: der rettende Sprung hinter den Brocken, nicht ganz geglückt; aber sicher hatte sie damit ihren sofortigen Tod verhindert. Das Walzgeräusch der Lawine, die sich an ihrer Deckung wütend gebrochen hatte. Der Staub, der sie fast erstickt hätte. Der mörderische Schlag an ihrer Schulter …
Ich verspüre keinen Schmerz, dachte sie auf einmal völlig klar und prüfte ihre Fähigkeit, den einen oder anderen Muskel zu bewegen. Keine Chance. Man hat mir Medikamente verabreicht … givvianische! Und sie scheinen zu wirken.
Noch einmal rangen ihr träges Schwammhirn und ihr waches Bewusstsein um die Vorherrschaft in ihrem Kopf. Das Schwammhirn gewann …
Klappern, ein lang gezogenes Schleifen, helle Schlieren hinter den wie Zement auf ihren Augäpfeln liegenden Lidern. Bérénice schmeckte trotz geschwollener Zunge ihren Mundgeruch und hasste sich dafür, obwohl sie wusste, dass sie jetzt ganz andere Probleme hatte als den Mangel frischen Atems. Sie konnte die dicke Zunge rollen, ohne dass ein Schlauch sie behinderte. Fast fürchtete sie sich, ihren Mund zu öffnen und den Givvianer damit zu belästigen, den sie im Raum hantieren hörte. Der Gedanke weckte ihren Humor und sie erzeugte eine erbärmliche Mischung aus Husten und Lachen. Das leise Rappeln verstummte augenblicklich, dann näherten sich Schritte ihrer Liege oder dem Krankenbett, auf das man sie gebettet hatte.
»Ihr sseid eine ersstaunliche Sspeziess«, kam es leicht verzischelt aus unmittelbarer Nähe. »Ssie lachen, obwohl Ssie halb tot und bewegungssloss hier liegen.«
Die Stimme des Givvianers produzierte die typische Echsenvariante eines überraschend guten Standard-Terranisch. Bérénice fand es erstaunlich, dass ihr Gekrächze richtig als Lachen erkannt worden war.
Der Kerl ist gut … oder sie. Verwundert durchstöberte sie die lichter werdenden Nebel ihrer Erinnerungen, ob sie schon irgendwann auf einen Givvianer gestoßen war, der so perfekt Terranisch gesprochen hatte … und selbst undeutliche Laute korrekt hatte einordnen können. Ihr Respekt vor den kleinen Dinosauriern wuchs um mehrere Prozentpunkte. Bevor sie etwas sagen konnte, fühlte sie zaghafte Berührungen an ihren Lippen. Ein weicher Schlauch wurde dazwischengeschoben und langsam floss Flüssigkeit in ihren staubtrockenen Mund. Das Zeug war lauwarm, etwas dünner als warmer Honig und schmeckte nach gar nichts. Trotzdem sog sie gierig am Schlauch.
»Langssam … Ssie haben Zseit, viel Zseit.« Er ließ sie noch drei, vier lange Schlucke machen, dann zog sich der Lebensspender vorsichtig zurück.
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