In dieser grassierenden Armut mit den politischen Turbulenzen des Jahres 1918 tat Eckhard Hieronymus den Dienst als Pfarrer an der Elisabethkirche in Burgstadt. Außerdem unterrichtete er an drei Wochentagen die evangelische Glaubenslehre am vom Stein'schen Gymnasium, wie es mit Oberstudiendirektor Dr. Hauff vereinbart war. Das Verhältnis zum Konsistorialrat Braunfelder, seinem Vorgesetzten, blieb gespannt und dienstlich. Mit ihm gab es so gut wie keine menschliche Begegnung. Dagegen gab es ein herzliches Verhältnis zu Pfarrer Altmann, dem älteren Kollegen von angeschlagener Gesundheit. Sie vertraten sich gegenseitig, wenn es nötig war, was meist der Jüngere der zweiten Pfarrstelle für den Älteren der ersten Pfarrstelle tat, wenn dieser wegen Unpässlichkeiten oder Krankheit bettlägerig war. Eckhard Hieronymus konnte seine Eltern nicht besuchen, aber es kam von ihnen die Nachricht, dass sein Bruder Friedrich Joachim von der Front zurückgekehrt war, aber durch eine schwere Kopfverletzung auf dem rechten Auge erblindet war und nur mit Krücken gehen könne, weil er die Kontrolle über das linke Bein als Folge einer zentralen Muskellähmung verloren habe. Der Vater schrieb, dass die Mutter durch ihren Kummer psychisch stark geschwächt und körperlich gebrechlich geworden sei. Er drückte in zittriger Schrift seine große Sorge aus, dass es Mutter in ihrem angegriffenen Zustand nicht mehr lange aushalten werde. Das bedrückte Eckhard Hieronymus sehr, der diesen Kummer mit sich trug, egal wo er war, ob er seine Predigt im Gottesdienst hielt, trauernde Menschen durch seinen Zuspruch tröstete oder die Schüler in der Glaubenslehre am Stein’schen Gymnasium unterrichtete. Es gab kein Gebet, in dem er nicht seine leidgeprüften Eltern und die Brüder, von denen einer gefallen und der andere ein Kriegsinvalide war, mit einschloss.
Luise Agnes brachte ein Töchterchen zur Welt. Es war ein freudiges, wenn auch ungewöhnliches Ereignis, da in den Familien der Dorfbrunners meist Söhne geboren wurden. Luise Agnes hatte die Schwangerschaft tapfer durchgestanden und war unter den erschwerenden Umständen ihrer Hausarbeit voll nachgekommen. Die jungen Eltern waren glücklich und dankbar, dass das Zurweltbringen ihres ersten Familienzuwachses ohne nennenswerte Komplikationen verlaufen war. Sie gaben dem Mädchen die Namen Anna Friederike und ließen es auf diese Namen taufen, wobei die Großmütter für je einen Namen Pate standen. Die Taufe nahm Pfarrer Altmann während eines Gottesdienstes mit drei anderen Kindertaufen in der Elisabethkirche vor. Es war ein feierliches Ereignis, zu dem die Großeltern Dorfbrunner und Hartmann mit dem Zug aus Breslau angereist waren.
Eckhard Hieronymus erschrak, als der Bischof nach einem Karfreitagsgottesdienst drei Jahre später vor ihm stand und die Hand reichte. "Rothmann. Ich freue mich, Sie kennenzulernen." Eckhard Hieronymus nannte seinen Namen, weil ihm etwas anderes nicht einfiel. "Ihre Predigt hat mich angesprochen, Pfarrer Dorfbrunner", sagte der Bischof. "Danke, das ist sehr freundlich", erwiderte Eckhard Hieronymus. Darauf sagte der Bischof: "Ich habe Ihnen zu danken. Ich bin erstaunt und froh, dass die Elisabethgemeinde Sie als Pfarrer und Prediger hat." Eckhard Hieronymus überlegte sich, ob er sich dafür bedanken soll, obwohl er sich doch gerade bedankt hatte. Er tat es nicht und schwieg. "Herr Dorfbrunner, ich hätte Sie gern einmal vertraulich gesprochen. Können wir uns für vier Uhr im Schlesischen Hof verabreden?" "Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Herr Bischof." "Dann bis vier, Pfarrer Dorfbrunnner!" Der Bischof gab Eckhard Hieronymus die Hand, der danebenstehende Konsistorialrat nicht, und ließ sich aus der Sakristei führen. Küster Krause kam mit der Kollekte zurück. Er strahlte und sagte: "Heute haben wir eine gute Sammlung. Sie haben ja auch eine gute Predigt gehalten, Herr Pfarrer, dann können die Menschen sich auch erkenntlich zeigen." Eckhard Hieronymus, der mit seinen Gedanken noch immer nicht ganz zurück war, hob die Hand, um Küster Krause Einhalt mit dem Lob zu signalisieren. Der Küster hatte es verstanden, fügte aber hinzu, dass die Kollekte an den Sonntagen erfreulich sei, an denen Pfarrer Dorfbrunner den Gottesdienst ausrichte. Als Eckhard Hieronymus mit seinen Gedanken wieder ganz in der Sakristei war, fragte er Herrn Krause, ob die Lesung aus dem Evangelium zu lang und die Textauslegung zutreffend war. Der Küster sagte seine Meinung, dass die Lesung kürzer und die Predigt, auch wenn sie klar und deutlich war, etwas schärfer -"wie es der Herr Pfarrer sonst doch tut"- hätte sein können.
Draußen wartete Luise Agnes mit Anna Friederike auf dem Arm. Er nahm ihr das Töchterchen ab, und sie gingen unter einer dicken Wolkendecke nach Hause. Luise Agnes sprach die Befürchtung aus, dass sie das Haus nicht mehr trocken erreichen würden. So legten sie einen Schritt zu, und Anna Friederike hatte ihren Spass und fuhr dem Vater mit der Hand durchs Haar, während er von der Begegnung mit dem Bischof in der Sakristei seiner Frau erzählte. Sie erreichten das Haus in der Wagengasse 7 trocken, als ein leichter Nieselregen einsetzte und Eckhard Hieronymus vom Nachmittagstermin im Schlesischen Hof sprach, wo ihn der Bischof vertraulich sprechen wolle. Luise Agnes nahm ihm das Töchterchen ab und setzte es aufs Töpfchen, während Eckhard Hieronymus Schuhe und Mantel auszog, den Mantel an den Kleiderständer im schmalen Flur hängte und den verbeulten Wasserkessel füllte und über die Gasflamme setzte. "Deine Predigt hat mir gut gefallen", sagte Luise Agnes, als sie mit Anna Friederike auf dem Arm aus dem Badezimmer in die Küche kam. "War sie nicht zu lang?", fragte er. "Nein", sagte Luise Agnes, "sie war nicht zu lang bei den vielen Punkten, die du in ihr angesprochen hast." "Meinst du, dass sie verstanden wurde?" "Die Predigt war klar und gut verständlich; man musste nur richtig hinhören. Deine Darstellung des Leidensweges hat mich erschüttert. Ich bekam die Gänsehaut. Ein zweites Mal bekam ich sie, als du das Bild vom Gnadenstrom entwarfst und davon sprachst, dass wir uns von diesem Strom mitreißen lassen sollen, der uns zu neuen, wunderbaren Ufern trägt, von denen wir nicht einmal träumen können. Schon das Bild war mitreißend." "Vieles in der Bibel ist bildhaft geschrieben. Weil die Sprache anschaulich ist, geht sie auch leicht ein." "Man muss kein Akademiker sein, um die Sprache zu verstehen", meinte Luise Agnes, worauf Eckhard Hieronymus erwiderte: "Je weniger akademisch gelesen wird, um so lebendiger ist die Sprache und natürlicher ist die Aufnahme des Wortes." "Du hast den Bischof zum ersten Mal gesehen. Ist er ein freundlicher Mann?", fragte sie und goss den frisch gebrühten Tee in die Tassen, gab den Zucker dazu und rührte ihn unter den hell klingenden Schlägen gegen das dünne Prozellan ein. "Er machte zumindest einen höflichen Eindruck", antwortete Eckhard Hieronymus, "ich erschrak, als er plötzlich vor mir stand und seine Hand reichte." "Warum hast du dich erschrocken?" "Weil ich mit den Gedanken bei den Eltern war und mir Vater nach dem Schlaganfall vorstellte, wie er sich die Worte aus dem Mund herausquält, sie beim Aussprechen verwäscht und zermalmt, mir Mutter vorstellte, wie sie unter Aufwendung ihrer letzten Kräfte Vater wäscht, bettet, kleidet, füttert und zur Toilette schleppt." "Ja, mir tun die Eltern sehr leid; und keiner von ihren Kindern kann ihnen helfen, Friedrich Joachim nicht, der selbst an Krücken geht, und wir auch nicht", sagte Luise Agnes betroffen und sah in das nachdenkliche Gesicht ihres Mannes. "Hat der Bischof etwas zur Predigt gesagt?", fragte sie. "Er sagte, dass ihn die Predigt angesprochen habe und er erstaunt und froh sei, dass die Gemeinde so einen Pfarrer und Prediger hat." "Und hat der Konsistorialrat etwas verlauten lassen?" "Nicht einen Ton. Der hat auch nicht, wie es der Bischof tat, mir die Hand gereicht." Luise Agnes machte ein ernstes Gesicht. "Hast du eine Ahnung, was der Bischof von dir will?" "Nicht die leiseste."
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