"Gegen die eigene Angst. Etwas muss bei ihm nicht stimmen", erwiderte Eckhard Hieronymus, "denn das Weglaufen vor dem Zuhören ist doch am Ende nichts anderes als die Flucht vor sich selbst. Der Rat ist von begrenzter Kapazität, wenn er mit einem Problem konfrontiert wird. Er will sich das Problem vom Hals halten, damit er um die Lösung ohne Anstrengung vorbeikommt; er verhält sich nach dem Motto: viele Probleme lösen sich von selbst, warum soll es mit diesem Problem nicht auch so gehen." "Das hört sich nicht gut an", sagte Luise Agnes, "als dein Vorgesetzter hat er sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Da kann er nicht die Dinge abstreifen, als gingen sie ihn nichts an; er kann nicht die Probleme wie Mehlstaub von seiner Schulter abklopfen. Der Rat kann sich doch vor der Verantwortung nicht drücken! Das wäre ja fürchterlich." "Es ist furchtbar, man kann das Fürchten kriegen", meinte Eckhard Hieronymus, "wenn ich mir vorstelle, wie in den Zeiten wie dieser, wo mit gewaltigen Brüchen und Umbrüchen zu rechnen ist, die Arbeit in der Gemeinde ablaufen soll, wenn da die ordnende Kraft im Rücken nicht zu spüren ist, ja fehlt, weil einer der Konsistorialrat ist, der die Probleme von sich wegwälzt. Da kann es passieren, dass politische Dinge in die Kirche getragen werden, die da nicht hingehören."
"Sag nochmal", fragte Luise Agnes, "was der Küster dir sagte mit der Warnung." "Küster Krause sagte, dass ich es schwer haben werde, weil es hier Menschen gibt, die ihren Neid nicht unter Kontrolle bringen. Dabei nannte er keinen Namen." "Kann es nicht der Neid nach deiner Predigt sein, von der Menschen sagten, dass es die beste seit vielen Monaten und Jahren, wie es der Küster sagte, war, dass der Rat auf diese befremdliche Weise reagierte und dir das Wort abschnitt?" "Das tat er doch schon bei meinem ersten Vorstellungsgespräch", erwiderte Eckhard Hieronymus, "also noch vor der Predigt, als der Konsistorialrat mir das Thema mit dem 8. Kapitel aus dem 1. Korintherbrief regelrecht aufdrückte und hinzufügte, dass er mich an der Auslegung des Textes beurteilen werde. Doch beides, nenne es Neid oder Weigerung, die Verantwortung zu tragen, entspricht einer fatalen Schwäche. Wenn schon der Kopf in der Verwaltung nicht stimmt, wie können seine Hände und Füße stimmen?" Luise Agnes machte ein betroffenes Gesicht: "Da muss ich dir zustimmen und muss dir auch sagen, dass ich mir Sorgen um deine Zukunft mache. Denn aus dem negativen Verhalten des Rates ist zu folgern, dass du deine Probleme selbst auszutragen hast. Wir müssen uns auf eine schwere Zeit einstellen, die um so schwerer ist, weil durch den verlorenen Krieg die Ideale, wie sie es vor dem Krieg noch gab, in der Ungewissheit der Folgen und im Durcheinander mit der aufkommenden Armut verschüttet gehen."
Eckhard Hieronymus schaute seine Frau an, dachte an ihre Schwangerschaft, bewunderte ihr Einfühlungsvermögen und ihren Fleiß, dachte an seine Eltern und Brüder, von denen das Schicksal bei Hans Matthias mit dem Tode besiegelt, bei Friedrich Joachim dagegen noch ungewiss war. Er dachte an die abgemagerten Menschen in der Gemeinde, sah sie im Geiste mit ihren blassen, zersorgten Gesichtern, wie sie am Totensonntag die Kirche verließen und er sie am Ausgang begrüßte. "Wir müssen die Dinge auf uns zukommen lassen", sagte er, “was sonst können wir tun, außer uns mit der Situation abzufinden, den lieben Gott um seinen Beistand zu bitten und hart zu arbeiten. Ich werde noch heute einen Brief an die Eltern schreiben, in dem ich ihnen erklären muss, warum ich sie nicht besuchen kann." Luise Agnes bekam feuchte Augen. Sie sagte, dass sie den Schmerz, den die Eltern zu erleiden haben, bereits empfinde. "Deine Eltern tun mir leid, dass sie das schwere Los allein zu tragen haben. Sie bräuchten den Beistand, und wir können ihn nicht bringen, weil der Rat es an der nötigen Menschlichkeit fehlen lässt. Wenn du ihnen schreibst, frage sie doch, ob sie nicht für eine Zeit zu uns kommen wollen, dass wir uns hier um sie kümmern können."
Eckhard Hieronymus hatte noch in der Nacht den Brief an seine Eltern geschrieben. In diesem Brief hat er ihnen mitgeteilt, dass es für ihn und Luise Agnes nicht möglich sei, sie zu besuchen. Als Grund führte er das Ergebnis des Gespräches mit dem Konsistorialrat an, das er jedoch umschrieb und als ein verwaltungstechnisches Problem bezeichnete. Es seien Aufgaben zu erledigen, die er wahrzunehmen hätte. Dabei dachte er an die Beerdigung des Geschäftsmannes Boschkewitz am Samstag, dem ein Trauergottesdienst voranzugehen hatte, und an den Taufgottesdienst am Sonntagnachmittag. Er erwähnte nicht, dass es auch finanzielle Probleme gab, weswegen er nach Absprache mit Luise Agnes allein kommen wollte, weil das Geld für die Reise der Reserve entnommen werden musste, die seine Frau mühsam angespart hatte. Das wollte er seinen Eltern nicht schreiben, weil sich sonst Mutter Dorfbrunner noch mehr Sorgen machen würde, die ihn ohnehin fragte, ob er und Luise Agnes mit dem Geld leben können, das er als Pfarrer verdient. Mit Gelddingen wollte er seinen Eltern nicht zur Last fallen, das entsprach nicht dem Dorfbrunnerschen Charakter, in dem sich Bescheidenheit, Stolz und Fleiß die Hand gaben. Er verschwieg deshalb auch die für ihn erschwerende Sache mit dem halben Monatsgehalt für die Dauer des Probejahres. Dagegen nahm er den Vorschlag von Luise Agnes in seinem Brief auf und fragte die Eltern, ob sie nicht für ein paar Wochen zu ihnen nach Burgstadt kommen wollen. "Ihr wisst, dass Ihr immer ganz herzlich eingeladen seid und wir uns über Euren Besuch sehr freuen würden." Als Eckhard Hieronymus diesen Satz schrieb, kamen ihm sogleich die Bedenken auf, weil die Eltern ihre Wohnung nicht verlassen würden, solange das Schicksal um seinen jüngeren Bruder Friedrich Joachim ungeklärt ist. Sie warteten mit Bangen und großer Sorge auf seine Rückkehr.
Die graue Wolkendecke trübte den Morgen ein, als Eckhard Hieronymus den Brief zur Post brachte und in den Briefkasten warf. Stimmung und Wetter stimmten überein, sie entsprachen dem Niedergedrücktsein des verlorenen Krieges mit dem, was nun auf die Menschen zukommen würde. Der scharfe Geruch der Armut zog durch die Straßen. Eckhard Hieronymus sah es den Gesichtern der Erwachsenen an, die an ihm vorübergingen, von denen ihn einige, vor allem alte Menschen mit den tiefen Sorgenfalten grüßten, dass sie mit sich und dem Problem des Überlebens beschäftigt waren. An der Litfasssäule vor dem Kirchplatz begannen sich nach dem langen Regen zwei handgeschriebene Plakate zu lösen. Auf dem einen war geschrieben: Wilhelm, du hast uns verraten. Verschwinde, sonst helfen wir dir nach! Die Aufschrift auf dem andern Plakat hatte der Regen verwaschen, auf dem noch zu lesen war: Deutsche Ehre, wo bist du?
Der Winter war früher als erwartet hereingebrochen. Regen und Schneefälle wechselten einander ab. Von der Front kehrten die Kriegsteilnehmer erschöpft und ausgehungert zurück. Viele trugen Verbände an Köpfen und anderen Körperteilen. Sie kamen mit amputierten Armen und an Krücken mit amputierten Beinen aus den Feldlazaretten. Ein Großteil der Männer, die mit den Idealen fürs Vaterland an der Front kämpften, kehrten jedoch nicht zurück, als bereits mehrere Wochen seit dem Kriegsende verstrichen waren; sie waren auf den Schlachtfeldern verblutet. Andere waren in französische, belgische und britische Gefangenschaft geraten. Genaues von den Vermissten wusste keiner, wenn nicht die Todesmeldung die Angehörigen noch in den letzten Kriegstagen erreichte. Diese Ungewissheit, ob Gefangenschaft oder Tod, schwebte als Damoklesschwert über den wartenden Familien. Vor den Geschäften standen die Menschen Schlange, um Milch, Butter und Fleischwaren zu ergattern, deren Preise nach oben schossen, die für kinderreiche Familien so gut wie unerschwinglich waren. Die Armut nahm rasant zu, mit ihr die Zahl bettelnder Kinder auf den Straßen und die Prostitution, für die sich auch minderjährige Mädchen verfügbar machten, die sich mit der ersten Abenddämmerung vor angelehnte Türen vergammelter Gassenhäuser und billigster Absteigequartiere oder an die Ecken abgelegener Seitenstraßen stellten. Die Not war groß und ruinierte das Letzte der guten Sitten.
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