Der Rat machte keinerlei Anstalt, den Brief entgegenzunehmen, hielt statt dessen mit seiner rechten Hand unbeirrt am Brustkreuz fest, während seine linke Hand die ledern eingefasste Schreibunterlage, dann das in rotem Kunstleder gebundene Terminbuch auf der Schreibunterlage, dann den teuren Füllfederhalter auf dem Terminbuch zurechtrückte. So begann ich mit dem Brief in der Hand das Problem zu schildern, sprach vom Tod meines Bruders Hans Matthias, dass er an der Front gefallen sei. Der Rat drückte sein Beileid aus, wollte wissen, an welcher Front Hans Matthias gefallen sei, was ich nicht sagen konnte. Ich sagte aber, dass es den Eltern schlecht gehe, die die lange Ungewissheit nach dem Schicksal ihrer zwei Söhne in hohem Maße verzehrt habe, die der Schlag von der Todesnachricht eines ihrer Söhne so hart getroffen hat, dass sie nun physisch am Boden liegen. Da sagte der Rat: "Aber ihre Eltern, Gott sei’s gelobt, leben doch noch." Ich sagte, dass mir der Gesundheitszustand der Eltern große Sorgen mache, und sprach die Bitte um einen Kurzurlaub aus, um die Eltern besuchen zu können und ihnen in der schweren Zeit beizustehen. Weiter bin ich nicht gekommen, denn nun legte der Rat los: "Herr Dorfbrunner, wollen Sie sagen, dass Sie am kommenden Samstag den Trauergottesdienst für Herrn Boschkewitz nicht halten wollen?" Ich hielt ihm entgegen, dass von "nicht wollen" keine Rede war, dass aber in Anbetracht der kritischen Lage der Eltern die Worte "nicht sollen" angebracht wären. Dem Rat zog die erste Blässe aufs Gesicht, ich bemerkte ein Zucken um seinen Mund. Er sagte, dass ihm noch keine Eltern begegnet seien, denen es nach dem Verlust des Sohnes nicht schlecht gegangen sei. Dann hielt er mir vor, dass ich erst vor ein paar Tagen den Dienst als Pfarrer an der Elisabethkirche angetreten habe; welche Reaktion ich denn von der Gemeinde erwarte." Luise Agnes atmete tief durch. Ihr tat ihr Mann in der Seele leid.
"Die kurzen dicken Finger des Rates krampften ums metallne Brustkreuz, als er mit dem Zusatz "Ich hoffe, dass Sie mich verstehen" sagte, dass ich den Tod von Hans Matthias weder objektiv, noch subjektiv vor mir oder den Eltern ungeschehen machen könne. An dieser Tatsache käme ich nicht vorbei; im Nebensatz fügte er hinzu: "wie Sie sich auch drehen mögen". Der Rat wurde heftiger und sagte, dass ich meinen Bruder nicht lebendig machen könne, denn so groß sei ich nun doch nicht." Luise Agnes erschrak über diese Anspielung, die sie für ungezogen erachtete und dem Konsistorialrat nicht zugetraut hatte. "Hatte Herr Braunfelder das so gesagt?", fragte sie. "Nicht anders hatte er es gesagt, und mir krampfte sich der Magen", fuhr Eckhard Hieronymus fort. "Jetzt schwoll seine Rede zum Strom, der nicht mehr aufzuhalten war. Bei allem Verständnis für das Schreckliche, dass meiner Familie widerfahren sei, und bei allem guten Willen mir persönlich gegenüber, das waren seine Worte, stände er meinem Anliegen auf einen Kurzurlaub zum Besuch der Eltern skeptisch gegenüber. Ich solle vielmehr bedenken, dass es millionen Eltern so ergangen sei wie meinen Eltern. Die Schläge des Schicksals seien unvorhersehbar und vor dem fürchterlichen Einschlag weder ablenkbar noch abwendbar oder abwehrbar. Ich könne daran nichts ändern und solle die Sache nicht noch schwerer machen, als sie ohnehin schon ist. Ich sollte nun nicht noch dramatisieren, damit endlich Ruhe eintritt. So hämmerte der Konsistorialrat auf mich ein, dass mir die Luft wegblieb. Ich hatte versucht, gegen den Redestrom anzuschwimmen. Es war vergeblich. Ich fühlte, wie ich in diesem Strom unterging und der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt war. Ich glitt mit meinen Gedanken ab und war bei den Eltern, die nicht nur vom Tod von Hans Matthias zutiefst getroffen waren, sondern sich über das ungewisse Schicksal von Friedrich Joachim den Rest ihrer Köpfe zerbrachen.
Der Konsistorialrat hatte sich fürchterlich aufgeregt, als ich ihm sagte, dass er mir doch einmal zuhören soll, damit er mein Anliegen, welches das Anliegen meiner Familie ist, besser versteht. "Was sagen Sie da: besser verstehen, als hätte ich Sie nicht verstanden", fuhr er dazwischen und schnitt mir gleich das Wort wieder ab. Wie hatte er doch gesagt: "Die Sorge um ihre Eltern ehrt Sie. Lassen Sie sich das von einem Älteren sagen, dass Sie in dieser Situation der großen Betroffenheit wenig ausrichten, aber mehr schaden können. Was ihre Eltern jetzt brauchen, ist die völlige Ruhe. Nennen Sie es Grabesruhe, diese Ruhe brauchen ihre Eltern jetzt." Luise Agnes sah ihrem Mann in die Augen, hinter denen die Betroffenheit hin und her flatterte; sie schüttelte den Kopf. Eckhard Hierronymus bemerkte ihre Ablehnung des enttäuschenden Verhaltens des Rates wohl. Er fuhr fort: "Ich hörte das Wort 'Grabesstille', das wie ein Blitz in mich einschlug. Sofort war ich aus meiner Abwesenheit zurück, nahm den Rat in seinem Stuhl ins Visier, dessen rechte Hand das metallne Brustkreuz weiter fest umklammert hielt, und unterbrach ihn laut, als ich sagte, dass meine Eltern noch leben. "Dann lassen Sie sie doch leben!, Herr Dorfbrunner", fauchte der Rat ungehalten zurück, wobei der Speichel auf die Tischplatte und mir ins Gesicht spritzte. Als ich davon überzeugt war, dass vom Rat nichts zu holen, mit ihm nicht zu sprechen war, stand ich auf und verließ sein Büro. Die Turmglocke machte ihre zwölf Schläge. Da wurde es mir schwer ums Herz, weil mich das Gefühl überkam, dass es in Bezug auf meine Eltern zwölf geschlagen hat und meine Mühen umsonst gewesen sind." "Wie hat der Rat darauf reagiert?", fragte Luise Agnes. "Als ich plötzlich und unerwartet aufstand, wurde der Rat blass, sackte auf seinem Stuhl in sich zusammen, dass die Rückenlehne um zwei Köpfe seinen Kopf überragte. Ihm fiel die Spucke weg, das Wort blieb ihm im Halse stecken. Der Rat rang nach Luft, seine Lippen bekamen den gefürchteten bläulichen Schimmer. Es war eine verzweifelte Situation, in der das Leben des Rates in Gefahr war. Ich war erleichtert, als sich der Spasmus der Atemwege löste und in einen Hustenanfall überging. Der zusammengesackte Rat hielt sich noch das Taschentuch vors Gesicht, als ich das Büro verließ. Rührend war die Anteilnahme des freundlichen Gärtners. Beim Verlassen des Hauses fragte er mich am Gartentor, ob ich ein gutes Gespräch mit dem Herrn Konsistorialrat hatte. Als ich ihm dies verneinte, machte er ein betroffenes Gesicht."
Luise Agnes war sprachlos. Sie hatte angenommen, dass Herr Braunfelder die kritische Situation bezüglich der Schwiegereltern begriff und es am guten Willen nicht fehlen ließ. Es sollte doch möglich gewesen sein, ihren Mann für ein paar Tage zu beurlauben, damit er nach seinen Eltern schauen konnte. Jeder Mensch mit einem normalen Empfinden für den Mitmenschen würde so einem Anliegen, wie es dem Konsistorialrat vorgetragen und begründet wurde, Verständnis entgegenbringen. Sie konnte nicht verstehen, warum gerade dieser Rat sich so unverständlich verhielt, der doch von Berufs wegen um die Fürsorge und Bedeutung der Nächstenliebe wissen sollte. "Du tust mir Leid, dass das Gespräch mit dem Konsistorialrat so negativ war. Dabei war dein Anliegen, die Eltern zu besuchen, um ihnen in ihrer Not beizustehen, nach meinem Dafürhalten durchaus berechtigt. Es wundert mich, dass das der Rat nicht verstand." Eckhard Hieronymus behielt die Augen seiner Frau, in denen das Feuer der Entrüstung brannte, im Blick. Er stellte die Frage: "Wie kann ein Mensch verstehen, wenn er nicht zuhört; liegt nicht die Fähigkeit zur Erkenntnis mehr im Zuhören als im Reden?" Luise Agnes nickte, "das glaube ich auch." "Aber der Rat machte keinerlei Anstalt, mich in Ruhe das Anliegen vortragen zu lassen", sagte Eckhard Hieronymus, "als befiele ihn eine Angst, wenn er anderen Menschen zuhören soll. Er verschanzte sich hinter dem Schreibtisch, der für ihn eine Art Verteidigungswall war." “Aber er wurde doch nicht persönlich angegriffen", meinte Luise Agnes, "wogegen sollte er sich denn verteidigen?"
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