"Herr Dorfbrunner", sprach der Rat nun mit gehobener Stimme, auch löste er seinen Blick aus der Anziehungskraft der Schreibunterlage heraus, "bei allem Verständnis für das Schreckliche, dass ihrer Familie widerfahren ist, und bei allem guten Willen ihnen persönlich gegenüber, stehe ich, Sie erlauben mir das Wort, skeptisch ihrem Anliegen auf einen Kurzurlaub zum Besuch ihrer Eltern gegenüber. Bedenken Sie, dass es Millionen Eltern so ergangen ist, wie es ihren Eltern nun ergeht, die Schläge des Schicksals sind unvorhersehbar und vor dem fürchterlichen Einschlag weder ablenkbar noch abwendbar oder abwehrbar. Millionen deutscher Männer und Söhne sind im Krieg gefallen. Leider haben ihre Opfer dem Vaterland keine Linderung gebracht. Sie können daran auch nichts ändern, Sie machen die Sache nur schwerer, als sie ohnehin schon ist. Es muss nun nicht noch weiter dramatisiert werden, denn es ist die allerhöchste Zeit, dass endlich Ruhe eintritt." Eckhard Hieronymus hatte bei der Schieflage der rätischen Ausführung das Bild riesiger und überfüllter Massengräber vor sich, die zugeschaufelt werden, ohne dass die Frauen von ihren Männern, die Eltern von ihren Söhnen mit einem letzten Blick Abschied nehmen, wo der Boden über die zerrissenen, verbluteten und tödlich erschöpften Körper geworfen und zu hohen, kilometerlangen Halden aufgeworfen wird, die noch nach zwei Generationen nicht einzuebnen sind. "Herr Dorfbrunner, hören Sie mir zu?" Offenbar hatte der Konsistorialrat bemerkt, dass der junge Pfarrer, dem die Blässe der Kapitulation ins Gesicht gefahren war, mit seinen Gedanken vom Redestrom abgekommen war und sich ganz woanders im Geiste bewegte. "Ich höre ihnen zu, Herr Konsistorialrat, doch wäre ich ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir einmal zuhören würden, damit Sie mein Anliegen, das das Anliegen meiner Familie ist, besser verstehen", sagte Eckhard Hieronymus. "Was sagen Sie da: besser verstehen; als hätte ich Sie nicht verstanden", der Rat begann zu schäumen. Er fuhr im Wortstrom weiter: "Die Sorge um ihre Eltern ehrt Sie. Lassen Sie sich das vom Älteren sagen, dass Sie in dieser Situation der großen Betroffenheit wenig ausrichten, aber mehr schaden können. Was ihre Eltern jetzt brauchen, ist die völlige Ruhe; nennen Sie es Grabesruhe, diese Ruhe brauchen ihre Eltern jetzt." Als ob Eckhard Hieronymus von einer abermaligen Abwesenheit zurückkehrte: "Aber Herr Rat, meine Eltern leben doch noch!" "Dann lassen Sie sie doch leben!, Herr Dorfbrunner", fauchte der Konsistorialrat mit speichelfeuchter Aussprache sein Ungehaltensein über den Tisch.
Eckhard Hieronymus, der seine Eltern tief im Herzen trug, war fassungslos, auch wenn er die Fassung nach außen behielt, nicht vom Stuhl aufstand, nicht mit der Faust auf den Tisch schlug, sich wieder hinsetzte, oder mit dem Stuhl umkippte. Er konnte einfach nicht verstehen, dass der Konsistorialrat soviel redete, ohne das Problem verstanden zu haben. Er war dazu noch eitel, wie es viele untersetzte Männer in übersetzten Posten sind. Wenn er sagte, dass er das Problem verstanden habe, dann sagte er es nur, weil er sich nicht nachsagen lassen wollte, dass er es nicht verstanden hat. Da sagte er mit Bewusstsein und aus purer Eitelkeit die Unwahrheit. Wie kann nur mit so einem Mann, der dazu noch mein Vorgesetzter ist, ein so ernstes Problem wie das vom besorgniserregenden Gesundheitszustand der Eltern besprochen werden?, fragte sich Eckhard Hieronymus, der in seinen Gedanken versunken war. Er war entsetzt über die Begriffsstutzigkeit des Konsistorialrates und seinen ungezähmten Redefluss, der am Kern der Sache völlig vorbeiging, als könnte man im Schuhgeschäft nun doch die Brötchen kaufen. Er sah ein, dass mit diesem Mann nicht zu reden war, der sich mit seinen kurzen dicken Fingern am metallnen Brustkreuz festhielt, als würde er freihändig den Halt verlieren. Er sah ihm ins Gesicht mit dem breiten Nasenrücken und den kleinen dunklen Augen. Der Wortschaum hing dem Konsistorialrat vor und zwischen den Lippen. "Meine armen Eltern", dachte er Eckhard Hieronymus im Büro dieses Rates an diesem Donnerstag kurz vor zwölf und erschrak wenige Minuten später, als die Turmglocke die Zwölf schlug. Da schoss das ungute Gefühl in ihn hinein, dass es nun zu spät sei, er mit Sicherheit zu spät komme. Die zwölf Glockenschläge, die Eckhard Hieronymus so nah und intensiv noch nicht gehört hatte, machten ihn unruhig. Er sah zum Konsistorialrat auf der anderen Seite des Schreibtisches, der "kugelsicher" und gedrungen mit dem Redeschaum nun in den Mundwinkeln im Sessel saß, dessen gepolsterte Rückenlehne seinen Kopf um einen weiteren Kopf überragte. Der Bittsteller machte sich beim bedenklichen Zustand, in dem sich seine Eltern seit dem Tod seiner Bruders Hans Matthias befanden, nichts vor; er war davon überzeugt, dass er da beim Konsistorialrat nicht übertrieb. Ob an diesem Schreibtisch über- oder untertrieben wurde, es spielte keine Rolle mehr, denn beides ging im nicht zu bremsenden Redeschwall des Rates gleicherweise unter.
Eckhard Hieronymus unternahm einen letzten Versuch, indem er eine kurze Redepause nutzte, die nur deshalb entstand, weil sich der Konsistorialrat mit dem Taschentuch den Schaum vorm Munde wegwischte und das Taschentuch mit Mühe, die seine Konzentration erforderte, in die rechte Hosentasche stopfte. Es war auch das erste Mal während der qualvollen Unterredung, dass das Burstkreuz aus der Fingerumklammerung herauskam. "Herr Konsistorialrat", setzte Eckhard Hieronymus an, "es sind meine Eltern...". "Erlauben Sie", unterbrach der Rat, "dass ich meinen Satz zu Ende führe. Wie gesagt, ihre Eltern brauchen jetzt Ruhe, da dürfen Sie nicht als Ruhestörer auftreten. Verstehen Sie mich recht, ich meine, da sollten Sie nicht in Dingen rumrühren, die, erstens nicht zu ändern sind, und zweitens als Wunden nun verheilen müssen. Es kommt jetzt auf eine schnelle Wundheilung an, der eine Störung äußerst abträglich wäre. Ich hoffe, Sie mich verstehen, Herr Dorfbrunner!" Die Namensnennung durch den Konsistorialrat, die ihn aus der wiederholten Abwesenheit zurückholte, nahm Eckhard Hieronymus zum verzweifelten Versuch, gegen den Redeschwall hart anzureden: "Ich habe Sie nicht verstanden, Herr Konsistorialrat", sagte er nun in einem fast aufsässigen Ton, "denn Sie lassen mich ja nicht nur nicht ausreden, sondern überhaupt nicht reden." "Was reden Sie da nur mit dem Nicht-ausreden-lassen", unterbrach ihn in einer wirschen Art der Rat, "das ist ja allerhand. Herr Dorfbrunner, damit können Sie mir nicht kommen, so können Sie mir nicht über den Mund fahren! Halten Sie mich denn wirklich für so dumm, dass ich Sie nicht verstanden habe?" Es trat eine Pause ein, die, wenn es nach Eckhard Hieronymus Dorfbrunner gegangen wäre, eine lange, eine unendlich lange Pause gewesen wäre.
Der Konsistorialrat kürzte die Pause ab, weil er den Fragesatz mit dem Für-dumm-halten nicht solange im ambivalenten Raum der Reflexion stehenlassen wollte, der bei längerer Betrachtung nur die anderen Vermutungen in der entgegengesetzten Richtung wecken würde. So war es eine Art Selbstverteidigung, dass er unverzüglich die Rede wieder aufnahm und den Strom zum Schwellen und zum Rauschen brachte. "Das darf Ihnen mit aller Zurückhaltung sagen, dass ich das Problem mit ihren Eltern völlig verstanden habe und dass so, wie Sie mit mir als ihrem Vorgesetzten sprechen, noch kein Geistlicher gesprochen hat, selbst wenn er bedeutend älter war, als Sie es heute sind." Eckhard Hieronymus beflügelte sofort das Bild der sitzenden, schweigenden Pfarrer vor dem großen Schreibtisch ( der Inquisition ) mit der großflächig polierten, leeren Schreibtischplatte und dem gedrungen und gestaucht dahinter sitzenden Konsistorialrat. Er fühlte sich in einer hoffnungslosen Position. Das Dorfbrunnersche Blut kochte in seinem Kopf. Bei dem Rat war weder Einsicht noch ein guter Wille. Er war ein "Hörloser", der sich vor dem Zuhören zu fürchten schien, sich aber im Redeschwall um so mehr gefiel, auch dann noch gefiel, wenn der Schwall an der Sache völlig vorbeiging. Denn so dumm war der Rat nicht, dass er nicht merkte, wie er sich vor der Verantwortung wegdrückte und sich am Problem vorbeiredete.
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