Luise Agnes, die die Bedeutung eines Besuch bei ihren Schwiegereltern genauso sah wie ihr Mann bei seinen Eltern, versuchte eine Lösung zu finden: "Wie wäre es, wenn du allein fahren würdest, dann wären die Kosten nur halb so groß und du könntest den Konsistorialrat fragen, ob das Pfarramt dir einen Vorschuss gewähren kann, dass du deine Eltern in dieser schweren Zeit besuchen kannst." Eckhard Hieronymus machte ein bekümmertes Gesicht. Die Gründe der Bekümmernis waren zum einen, dass er seine Frau in der Schwangerschaft ungern allein lassen würde, zum andern, dass, um die Reise realisieren zu können, auf die mühsam ersparten Reserven zurückgegriffen werden müsste. Er wollte seine Ehe auf der Schwelle zur Familie nicht noch in eine existentielle Bedrängnis bringen, aus der es dann vielleicht keine Erholung gibt. "Es ist schon ein Jammer, dass mir ein ganzes Probejahr zum halben Gehalt aufgebrummt wurde", sagte er mit unverkennbarer Verbitterung. "Können wir daran etwas ändern?", fragte Luise Agnes mehr rhetorisch als praktisch, weil sie die Antwort wusste. "Nein, ändern können wir daran nichts", bestätigte ihr Eckhard Hieronymus. Zum Geldproblem kam die Frage nach der Vertretung für den Gottesdienst, die Bibelstunde und die anderen Verpflichtungen hinzu. Es war unklar, ob sich Pfarrer Altmann, der am Totensonntag mit einer fiebrigen Grippe im Bett lag, wie es Küster Krause gesagt hatte, mittlerweile soweit wieder hergestellt war, dass er diese Vertretungen übernehmen kann. Immerhin standen in den nächsten Tagen zwei Beerdigungen und am kommenden Sonntag drei Taufen und eine Trauung an. Luise Agnes schüttete den Tee nach und rührte, wie sie es immer tat, in beiden Tassen den Zucker ein. "Auch wenn die Eltern einen Besuch als Trost empfinden würden, sie würden es nicht wollen, wenn wir für die Fahrt an die letzte Reserve gehen", sagte Eckhard Hieronymus mit dem Wackelton der fünfzigprozentigen Sicherheit. "Lass uns abwarten und weiter nachdenken", sagte Luise Agnes, "wir habe eine ganze Nacht zum Überlegen Zeit." Sie stand auf, ging zum Hinterhof, kam mit der ersten Trockenwäsche zurück, die sie auf den dritten Stuhl am Küchentisch legte und sich ans Bügeln mit dem schweren Bügeleisen aus Großmutters Zeiten machte, das ihr ihre Eltern mitgegeben hatten. Eckhard Hieronymus sah seiner Frau eine Weile zu und beschwor sich selbst, diese liebe Frau nicht in Bedrängnis zu bringen, weder mit dem Gefühl noch mit dem Geld.
Sie hatten eine Nacht hinter sich, in der des toten Bruders und der leidenden Eltern gedacht wurde. Erst in den frühen Morgenstunden gab es etwas Schlaf. Eckhard Hieronymus wachte gegen sechs auf und hielt den Kopf seiner Frau im Arm. Sie atmete ruhig; ihr Gesicht hatte die weichen Züge, die er so sehr an ihr liebte. Sie musste in der Nacht geweint haben, denn in den Lidspalten und neben den Nasenflügeln hatten sich die getrockneten Tränen verkrustet. Er küsste sie auf Stirn und Wange und lag wach im Bett. Draußen war es noch dunkel, als er den Kopf seiner Frau aus seinem Arm nahm und ihm das Kopfkissen vorsichtig unterschob. Er stieg aus dem Bett, ging in sein kleines Arbeitszimmer, knipste die kleine Tischlampe an und las im Brief an die Hebräer das 5. und 6. Kapitel. Daran schloss sich das Gebet an, in dem er Gott um seine Hilfe für die Menschen in Not bat, zu denen er seine Eltern und seinen Bruder Friedrich Joachim zählte. Von diesem Bruder hat es keine Nachricht mehr gegeben. Eckhard Hieronymus bat Gott, diesem Bruder, der vier Jahre jünger war als er, mit dem Leben zu verschonen und ihn bald heimkehren zu lassen. Er knipste das Licht aus, fand Luise Agnes in einem tiefen Schlaf, ging ins Bad, um sich zu rasieren und in der Wanne zu brausen, wofür aus Gründen der Sparsamkeit das kalte Wasser genügte.
Eckhard Hieronymus ließ sich Zeit, besonders beim Rasieren, um sich nicht zu schneiden, weil er mit großer Wahrscheinlichkeit den Gang zum Konsistorialrat nehmen werde, so war es jedenfalls in der Nacht besprochen worden, um ihn um Erlaubnis und einen Vorschuss zu bitten, damit er seine Eltern in Breslau besuchen könne. Er ließ das Licht im Badezimmer an und die Badezimmertür offen, als er sich, ohne das Licht im Schlafzimmer anzumachen, frische Unterwäsche, Socken und ein frisches Hemd aus dem Schrank holte. Beim Zuknöpfen des Hemdes hatte er sich mehr als einmal in der Knopfreihe vertan, so dass er das Hemd zweimal auf- und dreimal zuknöpfte. Bei den Socken gab es das Problem der Verwechselung, worauf ihn später Luise Agnes aufmerksam machte, als er rechts eine schwarze und links eine dunkelblaue Socke trug. Aus Anlass des Tages entschied er sich für die schwarzen Socken und wechselte die blaue aus. Die Entscheidung, die in der Nacht getroffen wurde, dass Eckhard Hieronymus die Reise zu seinen Eltern aus Kostengründen allein machen sollte, wurde am Frühstückstisch beibehalten und bezüglich der Durchführbarkeit noch einmal erörtert. "Geh zum Konsistorialrat", sagte Luise Agnes, "und frag ihn. Ich denke, wenn du ihm die Situation schilderst, wird er Verständnis zeigen und sich der Not nicht verschließen." Der Brief mit der traurigen Mitteilung lag auf dem Tisch und die Gedanken waren bei den leidenden Eltern. "Ich werde den Brief mitnehmen", sagte Eckhard Hieronymus; er meinte, dass ihm beim Konsistorialrat nun doch der Zweifel am guten Willen und der Hilfsbereitschaft aufkomme.
Gegen zehn machte er sich auf den Weg. Luise Agnes wollte sich an die Wäsche machen, die sie tags zuvor vernachlässigt hatte. Sie wünschte ihrem Mann die Portion Glück, die er für sein Vorhaben brauchte. Er ging die Wagengasse, eine kurze Gasse mit den alten, renovierungsbedürftigen Häusern zu beiden Seiten in Richtung Stadt und bog nach etwa dreihundtert Metern rechts in die Grabenstraße ein. Dort begegneten ihm Leute, meist Frauen im mittleren Alter, die ihn seit dem Gottesdienst vom Totensonntag kannten und freundlich grüßten. Auch Kinder liefen in beiden Richtungen an ihm vorbei, jedoch ohne von dem jungen Pfarrer im schwarzen Mantel Notiz zu nehmen. In der Grabenstraße, einer breiten Straße, in der die bessergestellten Familien der Verwaltungsleute wohnten, ging er an größeren, ordentlich verputzten Häusern mit den größeren, gepflegten Vorgärten vorbei. In einigen Vorgärten standen schmucke Gartenlauben unter alten Kastanienbäumen, vor denen bunt bemalte Zwerge aufgestellt waren, die mit roter Zipfelmütze über weit geöffneten Augen, grüner Jacke und Hose in braunen Zwergenschuhen steckten und mit großem, hoch gehaltenen Zeigefinger sich die Achtung der Größeren ohne Mienenwechsel oder sonstiger Bewegung verschafften. Von der Grabenstraße ging es dann links ab in die Marktstraße, die nach fünfhundert Metern zum Kirchplatz führte. Eckhard Hieronymus ging erst zum Hauptportal der Elisabethkirche, um den Anschlag mit den Ankündigungen für die nächsten zwei Wochen zu lesen, der neben dem Eingang hinter dem verschlossenen Glasdeckel in einem Holzkästchen angeheftet war. Da las er, was er schon wusste, vom Gottesdienst zum 1. Advent, der laut Ankündigung von Pfarrer Altmann gehalten wird, dem Taufgottesdienst und der Trauung. Auch war ein Trauergottesdienst für den verstorbenen Geschäftsmann Harald Boschkewitz für den kommenden Samstag, elf Uhr, vorgesehen. Boschkewitz, dessen Eisenwarenhandlung von seinem Sohn Ewald Boschkewitz fortgeführt wird, war ein bekannter Bürger der Stadt, der der Kirche einige namhafte Spenden zukommen ließ, und dem es zu verdanken war, dass die kleine Turmglocke nicht wie ihre beiden größeren Schwestern für Kriegszwecke eingeschmolzen wurde.
Eckhard Hieronymus ging nun quer über den Kirchplatz auf das gepflegte, tadellos und weiß verputzte Bürgerhaus des Konsistorialrates Braunfelder zu. Im geräumigen Vorgarten mit dem alten Nussbaum und den zwei, nicht jünger erscheinenden, dickstämmigen Kastanienbäumen war ein hagerer Mann, der zwischen vierzig und fünfzig sein mochte, mit dem Zusammenrechen des Herbstlaubes beschäftigt. Sein etwas verhärmtes Gesicht mit den dunkelbraunen Augen und dem noch vollen Haar mit den frühen grauen Strähnen war Eckhard Hieronymus vom letzten Gottesdienst her bekannt, als er beim Verlassen der Kirche den Pfarrer freundlich zurückgrüßte, ihm auch die Hand geben wollte, aber nicht konnte, weil eine ältere Frau vor ihm die Hand des Pfarrers übergebührlich lange in ihrer Hand hielt, den Pfarrer sozusagen festhielt. Der Gärtner sah ihn kommen, als er noch die Bahnhofstraße vom Kirchplatz her überquerte, und grüßte ihn durch den erhöhten, eisernen Gitterzaun. "Guten Morgen, Herr Pfarrer!" Eckhard Hieronymus kannte seinen Namen nicht und beschränkte sich deshalb auf das Guten Morgen. "Sie wollen sicherlich zum Herrn Konsistorialrat." "Das ist richtig." "Warten Sie, ich will schauen, ob er schon im Büro ist." "Danke, das ist sehr freundlich von ihnen." Eckhard Hieronymus stand auf dem Bürgersteig vor dem halb offen stehenden Tor des gut zehn Meter langen Zuganges zur geschlossenen Haustür. Er wartete und wartete, prüfte die Zeit nach Öffnen des Klappdeckels auf seiner eisernen Taschenuhr; es war dreiviertel elf, so sagte man in Schlesien, wenn das letzte Viertel zur vollen Stunde noch fehlte. Es dauerte lange, bis der freundliche Gärtner zurückkam und mitteilte, dass der Herr Konsistorialrat noch nicht in seinem Büro sei, andererseits wichtige Dinge in seiner Wohnung erledige, die keinen Aufschub dulden. "Der Herr Konsistorialrat bittet deshalb um etwas Geduld, er wird sobald wie möglich bei Ihnen sein." Eckhard Hieronymus nahm vom Gittertor einen Blick zur Kirche, schaute den Turm hoch bis zur Spitze, dann drehte er sich dem geräumigen Vorgarten zu, um die Aufräumungsarbeit des Gärtners zu verfolgen. Nachdem er das einige Male wiederholt hatte und seinen Blick auch in beide Richtungen der Bahnhofstraße schickte, schlug die kleine Kirchturmglocke die elf Schläge zur vollen Stunde, der letzten am Donnerstagvormittag.
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