Obwohl es schon ungewöhnlich im Beruf des Geistlichen ist, wenn er sich die Zeit zum Bibellesen nicht nimmt." "Wie gesagt, ich weiß es nicht", entgegnete Eckhard Hieronymus, "aber ein Geistlicher, ungeachtet seines Standes in der Hierarchie der Kirche, kann sich eigentlich nicht Geistlicher nennen, wenn er der Bibel nicht den höchsten Rang in seinem Beruf einräumt. Gerade das ständige Lesen mit der Meditation über das Wort der göttlichen Botschaft unterscheidet ihn vom Verwaltungsmann, dem es um die Ordnung der äußeren Dinge geht, der zufrieden ist, wenn diese Dinge stimmen." Luise Agnes goss Tee nach und rührte den Zucker in beide Tassen ein. "Welcher Zukunft können wir nun entgegengehen?", fragte sie, ohne sich die Sorge anmerken zu lassen, die sie berechtigterweise um ihren Mann und die kommende Familie hatte. Sie wusste, dass durch das ohnehin bescheidene Gehalt eines Pfarrers, das im vom Konsistorialrat angesetzten Probejahr auch noch halbiert wird, die Haushaltsführung in strengster Sparsamkeit zu erfolgen hat. Dazu war sie willens und bereit. Sich selbst wollte sie jeglichen Luxus versagen. Sie wollte die Kinderkleidung selbst nähen, wozu sie eine Nähmaschine brauchte, die sie von irgendjemand, den sie allerdings noch nicht kannte, ausleihen musste. Ihr Mann brauchte dringend einen dunklen Anzug, wenn er seine Besuche bei den Mitgliedern der Gemeinde macht. Für den Anzug hatte sie das Geld angespart und beim Herrenschneider Stein einen Termin zum Maßnehmen vereinbart, der für die folgende Woche anberaumt war. Nun hoffte sie, dass der Schneider, der schon nicht der teuerste war, noch genug böhmischen Stoff habe und die Preise durch die kriegsbedingte Geldentwertung bis dahin nicht auf das X-fache stiegen; denn dann würde das Gesparte nicht reichen. Während Luise Agnes mit all diesen Dingen im Kopfe zugange war, meinte Eckhard Hieronymus auf ihre Frage nach der Zukunft, dass er sich bemühen werde, ein guter Pfarrer für die Gemeinde und ein ehrlicher Seelsorger für die Menschen zu sein. "Sag mir", sprach er mit weit geöffneten Augen zu seiner jungen Frau, "was ich noch tun soll, um unser Leben in eine Bahn zu bringen, die bei den Unbilden der Zeit uns etwas Sicherheit gibt. Ich könnte Nachhilfestunden in Latein und Griechisch, vielleicht noch in Mathematik geben, wenn uns die Not dazu zwingen sollte."
Luise Agnes sah ihrem Mann tief in die Augen: "Wir müssen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Ich wäre gewillt, am Einkommen mitzuwirken, entweder durch Schreibarbeiten oder andere Gelegenheitsarbeiten. Zum Musikunterricht fehlt uns das Klavier, für Näharbeiten die Nähmaschine. Bei den hohen Preisen, und keiner weiß, wie sie weiter steigen, sind diese Anschaffungen für uns unerschwinglich." "Vergiss nicht”, unterbrach Eckhard Hieronymus, “dass du ein Baby bekommst, da solltest du dich mehr schonen!"
Trauernachricht und das missglückte Gespräch
Dem Sonntag folgten der Montag und der Dienstag. Erst am Mittwochnachmittag riss die Wolkendecke über der Stadt auf. Dennoch hatte es die Sonne schwer, ihre langersehnten Strahlen bis auf die Dächer der Häuser und auf die Straßen, die vom langen Regen gründlich verschmiert waren, zu schicken. Der Wetterwechsel zum Besseren gab Luise Agnes Anlass, die Wäsche zu waschen und den Hausputz zu halten. Sie begann mit der Wäsche, von der sie die Weißwäsche in einem Kessel, dem Beulen und dunkle Flecken vom Gebrauch durch vorangegangene Generationen anhafteten, im Keller kochte, die wenige Buntwäsche dagegen im Warmwasser über der Badewanne wusch. Sie hängte die Wäsche zum Trocknen über die drei, im schmalen Hinterhof gezogenen Leinen, als der Postmann den Klingelgriff an der Tür drehte, wartete, und weil Luise Agnes auf den Klingelton nicht reagierte, weil sie im Hinterhof mit dem Aufhängen der Wäsche beschäftigt war, die Post durch den schmalen Postschlitz in den Flur warf. Luise Agnes war mit ihren Gedanken halb bei der Wäsche und halb bei den Existenzfragen der Dorfbrunners, die in einigen Monaten den ersten Zuwachs bekommen und eine Familie werden würde. So wie der verhangene Himmel der letzten Tage und Wochen mit der aufs Gemüt drückenden dunklen Wolkendecke war auch die Zukunft verhangen, die noch stärker als die Wolken mit dem kalten Regen aufs Gemüt drückte. Ein Fernblick war unmöglich, und im Nahblick sah es düster aus.
Zu diesen Erschwernissen, die den Alltag hartnäckig begleiteten, kam die berufliche Situation ihres Mannes als Pfarrer im Probejahr hinzu. Sie spürte es täglich mehr, dass ihr Mann an dieser Auflage schwer trug, weil er sich Sorgen machte, und die Sorgen waren mehr als berechtigt, wie er seine unterwegs befindliche Familie kleiden und ernähren sollte, wenn sie auch bezüglich der Kleidung durch eigene Näh- und andere Handarbeiten die Kosten zu senken beabsichtigte, soweit es ihr möglich war. Doch einen Herrenanzug nähen, das konnte sie nicht; dafür fehlte ihr die ganze Erfahrung. Sie würde sich beim Maßschneiden des Tuches vertun, was teuer zu stehen käme. Warum legte Konsistorialrat Braunfelder ihrem Mann ein ganzes Probejahr auf, und das zum halben Monatsgehalt? Er wusste doch, das Eckhard Hieronymus jung verheiratet war, wo mit einer Schwangerschaft gerechnet werden konnte. Der Konsistorialrat hatte gesagt, dass er ihren Mann an der Predigt messen wolle, für die er ihm das 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes vorgegeben hatte. Er hatte dann die Predigt gehört, von der andere sagten, dass es die beste Predigt seit Monaten, oder wie Küster Krause sagte, die beste Predigt seit siebzehn Jahren gewesen war. Hatte Eckhard Hieronymus durch seine Predigt nicht genug unter Beweis gestellt, dass er das Zeug zum Pfarrer hatte und die Sprache in seiner Exegese über den Durchschnitt hinausging? Welchen Maßstab noch wollte denn der Konsistorialrat an die Predigt legen, womit wollte er sie messen? In der Sakristei sagte er kein Wort. Das bedrückte nicht nur Eckhard Hieronymus, der mit Idealismus und Glauben an seinen Beruf herangeht, sondern auch seine junge Frau, die beim Wäscheaufhängen bei der Zukunft war, sich abmühte, tiefer in sie einzudringen, was ihr aber nicht möglich war, weil es zu viele unbekannte Faktoren gab, die wie kleine Sprengsätze durcheinanderwirbelten, um ein Bild zu ergeben, das nicht nur geschlossen, sondern auch positiv und praktisch ins Alltagsleben umsetzbar war.
Sie ging in die Küche, um zu schauen, ob Gemüse und Kartoffeln fürs Mittagessen langten. Sie sah die verstreute Postsendung auf dem Flurboden, hob sie auf und erschrak, als ein schwarz umrandeter Briefumschlag dabei war. Als sie die Handschrift ihres Schwiegervaters, des Oberstudienrates Georg Wilhelm Dorfbrunners, erkannte, der die Anschrift mit dem Füllfederhalter pedantisch ordentlich geschrieben hatte, die dann vom Regen wieder verschmiert wurde, fühlte Luise Agnes, wie der Blitz des Schicksals auf sie einschlug. Ihr wurde schwarz vor Augen, und dem momentan aufkommenden Schwächeanfall war sie nicht gewachsen; mit letzter Kraft stemmte sie sich gegen die Wand, ging an der Wand entlang bis zur Küchentür und stürzte auf den letzten zwei Metern in der Küche, die sie ohne Wand bis zum nächsten Stuhl nehmen musste, auf den Boden. Sie hatte die Rückenlehne des Stuhles schon gegriffen, den sie beim Sturz mit nach unten riss. Wie lange sie in der Küche lag, das wusste sie nicht, als Eckhard Hieronymus kurz nach zwölf zurückkam, den normalen Weg durch die Eingangstür nahm, die über Tag nicht abgeschlossen wurde, und seinen üblichen Weg zur Küche weiter nahm, als auch er zutiefst erschrak, als er seine Frau am Boden liegen sah. Er glaubte, dass der Sturz Folge eines Schwächeanfalls aufgrund der Schwangerschaft war, die ja mit solchen Anfällen nicht selten einhergeht. Er beugte sich über seine Frau, deren Augen offenstanden, schaute auf ihren Brustkorb, um etwas über die Atmung zu erfahren, hielt seine Hand unter ihre Nase, um sich die Luft ihrer Ausatmung über die Hand streichen zu lassen, schaute in die Pupillen, die eng waren, und bemühte sich aufs Äusserste besorgt durch sanfte Klapse auf die Wangen seine Frau ins Dasein in der Wagengasse 7 zurückzuholen. Gott sei Dank stand ihr kein Schaum vor dem Mund, stellte er wie ein halber Mediziner fest, der sich mit der Wiederbelebung eines so sehr geliebten Menschen abmühte. Er betete zum lieben Gott, dass er seine liebe Frau mit dem Baby im Bauch zu ihm zurückbringen möge. Es war ein tiefes Gebet, dass die normalen Feste sprengte, als gäbe es nichts, an dem sich der Mensch im Leben sonst, wenn nicht im Glauben, festhalten könne.
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